Miss Seeton und der Hexenzauber
sichere Striche umrissen das Kircheninnere mit dem Mittelgang und den Bänken vom Altarraum aus gesehen. Im Vordergrund – im Profil – stand der Meister von Maidstone und hielt eine schwarze, tropfende Kerze in der erhobenen Hand, die andere Hand deutete anklagend nach unten. Vor ihm die Gemeinde in demütiger oder angsterfüllter Haltung. Abgesehen vom Meister selbst waren nur zwei oder drei Gesichter deutlich gezeichnet: ein blondes Mädchen, das Delphick sofort als die Schönheit vom Frühstück wiedererkannte, eine unangenehme Frau mit Adlernase und einem Turban in schrillen Farben auf dem Kopf und ein junger Mann mit nah beieinander liegenden Augen. Delphick deutete auf den jungen Mann. »Wer ist das?«
Miss Seeton betrachtete ihn eingehend. »Ich glaube, es ist niemand Bestimmtes. Wenigstens hatte ich niemanden im Sinn, als ich ihn gezeichnet habe. Es ist einfach nur … ein Gesicht.«
»Und sie?« Delphick legte den Finger auf den Turban.
Miss Seeton erwiderte kleinlaut: »Das, fürchte ich, ist eine Verwandte von Sir George. Der Hut – so unkleidsam – ist mir im Gedächtnis haften geblieben. Aber das ist genau das, was ich meine«, erklärte sie weiter, »es geht alles durcheinander. Weder das hübsche Mädchen oder der Redner waren da. Alle trugen Masken. Diese Personen waren bei der Versammlung, auf die mich Mr. Brinton geschickt hat. Bei der anderen, meine ich.«
Delphick war überzeugt von Miss Seetons Aufrichtigkeit, aber nicht von ihrer Genauigkeit. Er könnte in keinem Gerichtssaal damit bestehen, aber nach seinen Erfahrungen mit ihr und der Art, wie sie funktionierte, nahm er als gesichert an, daß alle vier Personen an der schwarzen Messe teilgenommen hatten. Dieser Hilary Evelyn stand bereits unter Beobachtung. George Colvedens Tante Bray war, wie er wußte, in ein Hotel in Rye gezogen. Er überlegte, ob Sir George wohl ahnte, daß sie in diesen Mumpitz verwickelt war. Wahrscheinlich nicht. Wenn man einer – in diesem Fall ungeliebten – Person nahestand, schöpfte man gewöhnlich keinen solchen Verdacht. Aber nach allem, was Delphick von dieser Tante Bray gehört hatte, war ihr durchaus zuzutrauen, daß sie diesen Nuscience-Nonsens mit ein bißchen Hexenkult vermischte. Menschen, die ein unproduktives, unbefriedigendes Leben führten, waren immer leichte Beute für Okkultes und Scharlatanerie. Und es würde sich vermutlich lohnen, einige Nachforschungen über das Mädchen – eine Mrs. Paynel aus London, wie er vorhin am Telefon erfahren hatte – anzustellen. Er hatte Männer vom Yard auf sie angesetzt und hoffte, bald mehr über zu wissen.
Der Walzer aus der Lustigen Witwe dröhnte aus dem Radio. Merilee Paynel lachte fröhlich.
»Ein Omen«, rief sie. »Sie spielen meine Melodie.« Sie machte drei Schritte, drehte sich und wirbelte dann noch zweimal herum. Ihr sanft schimmerndes Ballkleid bauschte sich um ihre Beine, und als sie stehenblieb, sank der Saum zu Nigels Füßen. Er legte ihr den Umhang, den er bereithielt, um die Schultern. Merilee richtete sich mit einer schwungvollen Bewegung auf, schwebte über den Boden, drehte sich um und machte einen tiefen Knicks vor Sir George und Lady Colveden. Dann erhob sie sich mit einem strahlenden Lächeln und huschte davon. Nigel grinste seine Eltern breit an, salutierte und folgte ihr.
Miss Seeton hatte die Szene verzückt beobachtet. Es juckte sie in den Fingern, das auf einem Bild festzuhalten: die Anmut, den Glanz und die Heiterkeit, die flüssigen rhythmischen Bewegungen, die Freiheit und die Farben.
Sobald sie nach Hause kam, würde sie es probieren, sie mußte wirklich versuchen, das Schwierigste zu malen: eine lebhafte Szene voller Bewegung und Frohsinn.
Sir George räusperte sich. »Reizendes Mädchen.«
»Ja …« Lady Colvedens Tonfall verriet Zweifel. »Aber sie ist ein bißchen alt für Nigel, und wir wissen gar nichts von ihr. Und was hat sie in ein so kleines Dorf wie unseres verschlagen? Paynel …« Sie sah fragend in die Runde.
»Hieß nicht dieser Rennfahrer Paynel? Ich erinnere mich dunkel, daß er vor einigen Jahren einen Unfall hatte und dabei ums Leben kam. Es stand in den Zeitungen.«
»Das geht uns nichts an. Ein bißchen Erfahrung kann Nigel nicht schaden. Der Junge ist erwachsen.«
»Er ist erst neunzehn und …« Lady Colveden schüttelte entschieden ihre Bedenken ab. »Kommen Sie«, sagte sie zu Miss Seeton. »Das Essen ist fertig. Wir müssen nur noch auftragen.«
Die Colvedens, die
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