Miss Seeton und der Hexenzauber
schlug die Mappe auf. Oh! Sie starrte verdutzt auf das Blatt. Delphick stand neben ihr und betrachtete das düstere Aquarell in Sepia, Grau und Schwarz: Eine Kirche zeichnete sich vor dem nächtlichen Himmel ab, und der Wald, der sich hinter der Kirche erhob, schien das Gebäude beinahe zu verschlingen. Das Bild strahlte eine unterschwellige Bedrohung aus – jederzeit könnte ein Blitz auf die Szene herniederfahren und Donnergrollen die Landschaft erschüttern.
»Ist das«, erkundigte sich Delphick, »das Bild von der Kirche, das Sie verloren zu haben glaubten?«
»Ja«, sagte Miss Seeton und verfiel in nachdenkliches Schweigen.
Delphick wartete. Wirklich, dachte sie, äußerst verwirrend. Sie wußte, daß sie präzise sein mußte.
Präzision war so wichtig für die Polizei. Aber wie konnte man präzise Angaben über einen Sachverhalt machen, den man selbst nicht verstand? Über etwas, was ganz und gar unmöglich und exakt das Gegenteil von dem war, was man erwartet hatte?
»Also?« drängte er sie.
»Es ist ein bißchen kompliziert«, sagte sie schließlich.
»Ich fürchte, ich verstehe das alles nicht.« Na, wenn das so ist, dachte Bob, dann gute Nacht. Es war schon schlimm genug, wenn sie wußte, worüber sie redete, aber
… Er trat ein paar Schritte vor, um sich das Bild selbst anzusehen. Menschenskind! Ganz schön unheimlich.
Fledermäuse im Glockenturm und lauter solche Sachen.
Fledermäuse im …? Das war die verdammte Kirche, in der sie letzte Nacht gewesen waren. Da an der Seite, das war der Turm, aus dem Miss Seeton herausgelinst hatte.
Von dieser Plattform hatte die Feuerwehr sie
heruntergeholt. Wann, zum Teufel, hatte sie die Zeit gehabt, dieses Bild zu malen?
»Es sieht ein wenig so aus«, meldete sich Miss Seeton wieder zu Wort, »wie die Kirche, in die mich Mr. Foxon gestern gebracht hat. Ich bin so erleichtert, daß es ihm wieder bessergeht. Aber der andere junge Mann, der so schwer verunglückt ist – schrecklich. Und ich habe das Gefühl, daß das zum Teil meine Schuld war. Er war so in Eile, daß die Leiter ins Schwanken geriet, und ich fürchte, mir sind ein paar Gegenstände aus den Händen gerutscht.«
Delphick unterdrückte ein Lächeln. Nach den Spuren und Beweisen, die sie hatten sichern können, mußte sie ihn regelrecht bombardiert haben, und das war auch gut so, sonst wäre es ihr selbst an den Kragen gegangen.
»Wann haben Sie dieses Bild von der Kirche gemalt?«
»Oh, das habe ich nicht gemalt«, wehrte sie ab. »Ich habe es noch nie gesehen. Dieses Bild, meine ich. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wie es hierher gekommen sein könnte.«
Der Superintendent musterte Miss Seeton eingehend: Hatte sie etwa wie Foxon eine leichte
Gehirnerschütterung? Schön – er mußte sich Schritt für Schritt voran tasten. »Sie sagten doch, dies ist das Bild von der Kirche, das Ihnen verlorengegangen ist, und jetzt ist es offenbar wieder aufgetaucht.«
»O nein, das habe ich nicht gesagt«, berichtigte sie ihn schnell. »Daß es verlorengegangen ist, meine ich. Es war ja nie vorhanden.« Sie merkte selbst, daß das vielleicht ein wenig verworren klang, und beschloß, die Dinge restlos aufzuklären. »Damit meine ich nicht die Kirche an sich.
Die war offenbar immer da. Aber das erste Bild zeigte sie, s oweit ich mich erinnere, bei Tag. Und dies hier bei Nacht. Und ich glaube, auch aus einem anderen Blickwinkel. Obwohl es, wie Sie sagen, aufgetaucht ist, kann man nicht behaupten, daß es ›wieder‹ aufgetaucht ist, weil es ja am Anfang nicht da war. Das Bild, meine ich.«
Delphick blinzelte. Vielleicht war er derjenige mit der Gehirnerschütterung. Bob betrachtete Miss Seeton mit neuem Respekt. Zum erstenmal war das Orakel sprachlos; sie hatte ihn kalt erwischt. Die Fakten wirbelten durch Delphicks Kopf und setzten sich in einer gewissen Ordnung ab. Sie hatte also zwei Meerlandschaften gemalt, oder gedacht, daß sie sie gemalt hätte. Zweimal sind Bilder von einer Kirche daraus geworden. Zweimal hatte ihr Unterbewußtsein, wenn er sich nicht allzusehr täuschte, eine Vorwarnung auf bevorstehenden Ärger erhalten, und das hatte sie, ohne es selbst zu wissen, zu Papier gebracht. Er signalisierte Bob, sein Notizbuch herauszuholen, und setzte sich, um Miss Seeton eingehender zu befragen. Er erfuhr, wo sie sich aufgehalten und was sie getan hatte; hörte von ihrem Absturz – so unachtsam! – und von dem Tunnel unter dem Hügel. Offensichtlich waren die Nuscientisten
Weitere Kostenlose Bücher