Miss Seeton und der Hexenzauber
sie sich vielleicht doch, in aller Bescheidenheit natürlich, als Künstlerin betrachten durfte? Aber nein. Das erschien ihr doch ziemlich unschicklich. In ihrem Alter! Sie studierte das Aquarell noch einmal und versuchte, unvoreingenommen seinen Wert und die Vorzüge einzuschätzen. Die Verzauberung schwand langsam wie ein Nebel, der von einer Brise davongetragen wurde. Die Farben verblaßten vor ihren Augen, veränderten sich; die Linien verschoben sich, und die Bewegung erstarrte – ein völlig unbekanntes Bild überlagerte das alte, das schwungvolle. Das rotgoldene Haar und die Gesichtszüge waren geblieben, aber das Lachen war weg. Die Gestalt trug ein grünes Kleid und einen türkisfarbenen Umhang; der Blick war gesenkt, die Arme wirkten schlaff, und die Hände ruhten mit nach oben gerichteten Handflächen auf den Knien.
Das Bild vermittelte eine ganz andere Stimmung: Trauer und Leid – die vollkommene Verzweiflung. Das war lächerlich. Ihre Augen waren überfordert – es konnte sich nur um eine optische Täuschung handeln. Es war eine scharfe Zurechtweisung für ihre Selbstherrlichkeit. Sie richtete den Blick wieder auf das Bild. Die sitzende Figur verhöhnte sie. Miss Seeton stand auf und ging weg. Sie würde ihr Werk nicht mehr anschauen, bis ihr Urteilsvermögen ungetrübt war, bis diese unglückselige Vision verschwunden war. Sie ging in die Küche, füllte den Kessel mit Wasser, um das Allheilmittel der Engländer zuzubereiten: Tee.
Eine Enttäuschung erwartete Nigel auf dem Jägerball.
Der Abend hatte verheißungsvoll begonnen. Merilee war bezaubernd, als er sie seinen Eltern vorgestellt hatte, bester Stimmung auf der Fahrt und temperamentvoll beim Tanzen. Nigel erlebte das, was Männern die größte Befriedigung bereitet: Die anderen beneideten ihn um seine Begleiterin. Jeder Mann auf dem Ball wollte ihr vorgestellt werden, aber er blieb, abgesehen von der Polonäse, ihr einziger Partner.
Während des Soupers an einem Tisch für sechs Personen unterhielt Nigel die Gesellschaft mit einer Beschreibung des Kreuzzugs zur Teufelsaustreibung. Der Erfolg, den er mit seiner lebendigen, humorvollen Erzählweise hatte, machte ihn blind gegen Merilees mäßige Reaktionen. Sie war wortkarg, und ihr Lächeln wirkte gezwungen. Nigel krönte seine Geschichte mit einer witzigen Schilderung von dem Überfall auf die alte Miss Wicks und erntete damit schallendes Gelächter. Nur Mrs. Paynel blieb ernst und in sich gekehrt.
Merilee war es, als würde sich ein Kaleidoskop in ihrem Kopf drehen. Im Bruchteil einer Sekunde fielen die grellen Lichter und gezackten Formen, die ihr gegenwärtiges Leben dargestellt hatten, zu einem neuen Muster zusammen. Es entstand ein unangenehmes Bild; ein Gradmesser, der das ganze Ausmaß ihres raschen Abstiegs auf einen Blick deutlich machte.
Ihre Gedanken trugen sie vier Jahre zurück – oder waren es vierzig? – Erinnerung … Glück. Zwei Jahre Ehe und verliebt: verliebt in das Leben mit Peter und verliebt in das neue Leben, das sich in ihr regte. Erinnerung … in den Tod geschleudert auf einer Öllache in einer Straßenkurve und … Sie hatte nie erfahren, auf welches Hindernis das Auto aufgefahren war. Sie war so stolz gewesen, ihr Leben mit Peter teilen zu können, und gerade dieser Stolz hatte seinem und dem neuen Leben ein jähes Ende gesetzt.
Den Pokal, den er an diesem Nachmittag beim Autorennen gewonnen hatte, hatte er sorgfältig auf dem Rücksitz verstaut; er mußte sich ausruhen; sie wollte fahren und beweisen, daß sie ihm Strapazen ersparen konnte, wenn es nötig war. Leben und Lachen; ein kurzer Kampf am Steuer und Angst; der Tod und das verstummte Lachen, das in einem entsetzten Keuchen endete, als sie die Kontrolle über den Wagen verloren hatte. Ein letzter Atemzug, das erste Seufzen des Todes. Vier Jahre. Und noch immer konnte, wollte sie sich nicht damit abfinden.
Wäre es einfacher gewesen, wenn die Leute ihr Vorwürfe gemacht hätten? Ihr Anlaß gegeben hätten, sich zu verteidigen, statt sie sich selbst und ihren quälenden Schuldgefühlen zu überlassen? Mitgefühl vom Coroner, freundliche Anteilnahme von Peters Eltern. Sie wollten dem Kind den Namen von Peters Vater geben; wenn es ein Mädchen geworden wäre, hätte es Roberta geheißen.
Verständnis von allen Seiten. Nur sie selbst verstand nichts. Und sie flüchtete vor sich selbst und allem anderen, und ihr Vorwand war, daß sie jetzt, da ihr Lebensfunke erloschen und ihr Geist
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