Miss Seetons erster Fall
Aufgeschlossenheit, die mich sehr froh macht. So sehe ich die Menschen, wissen Sie. das heißt, so möchte ich sie sehen: als warmherzige, wohlmeinende Freunde. Freunde«, fuhr er lebhaft fort, »das ist es, was die Menschen sein sollten. Und hier ein wahres Beispiel davon zu erleben, das freut mich wirklich.« Sein Gesicht bewölkte sich wieder. »Oh, ich vergesse ganz, warum ich eigentlich vorbeigekommen bin. Um Ihnen, auch im Namen meiner Schwester, unser Beileid auszusprechen und unser Mitgefühl bei Ihrem schmerzlichen Verlust. Ihre Großtante war eine liebe und hochgeschätzte Freundin von uns.«
»Patentante, Mr. Treeves«, sagte Miss Seeton und unterdrückte ein Hüsteln. Sie lächelte: »Paten-, nicht Groß-. Oder, wie ich als Kind sagte, #Gotte.«
Nicht groß, sondern Gott? Der Pfarrer zuckte zurück. Eine Deistin vielleicht? Offenbar seit Kindesbeinen, und noch dazu fanatisch. »Eben, eben.« Er erhob sich hastig. »Wir alle haben unsere eigenen Ansichten, Überzeugungen, Betrachtungsweisen – nennen Sie es, wie Sie wollen. Leben und leben lassen, das ist meine Devise. Dogma und Doktrin mögen sich unterscheiden, aber im Grunde – oder vielleicht sollte ich sagen – im Herzen – empfinden wir alle dasselbe, würde ich sagen. Und jetzt muß ich wirklich gehen. Ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«
»Aber Herr Pfarrer, Ihr Tee? Das Wasser kocht bestimmt schon.« Sie stand auf. »Tee? Aber nein, auf gar keinen Fall. Bitte, keine Umstände.« Er hastete aus dem Zimmer. »Ich bin schon sehr spät dran, ich muß mich beeilen. Auf Wiedersehen, Miss. hm.« Er griff nach der Haustürklinke. »So erfreut, Sie kennengelernt zu haben.« Er zog die Tür auf. »Oh.« Der Anblick eines Polizisten in Uniform ließ ihn abrupt zurücktreten, er stieß an das Tischchen, die Pakete kamen ins Rutschen, und Miss Seeton konnte sie gerade noch retten. »Verzeihen Sie, wie ungeschickt von mir.«
»Das macht nichts, es ist gar nichts passiert. Entschuldigen Sie mich eine Sekunde, ich muß den Kessel abstellen.« Miss Seeton eilte in die Küche.
»Oh, Potter.« Der Pfarrer war die Leutseligkeit selbst, denn Recht und Ordnung waren ihm zu Hilfe gekommen: »Sie haben mich gesucht?«
»Nein, Sir.«
»Nein?« Reiner Zufall also. Die Vorsehung unterstützte seine Flucht. »Dann gehe ich. Oder kann ich irgendwie behilflich sein? Einen Augenblick dachte ich wirklich, Sie wollten hierher.«
»Das wollte ich auch, Sir. Hier soll eine gewisse Miss Seeton sein.«
»Seeton?« Reverend Treeves zögerte einen Augenblick und gab sich dann geschlagen. »Ja, das stimmt. Aber das nützt Ihnen nichts, überhaupt nichts, sie ist ja eben erst angekommen.« Doch in ihm rumorte ein leiser Zweifel. Da war doch irgendwas, das Molly gesagt hatte. irgendwas, das er hätte sagen sollen. Irgendwas – was war es nur? London? Scherereien? Jedenfalls etwas Unerfreuliches. Und es betraf ein Pfarrkind. Er mußte dableiben. Vielleicht brauchte man ihn, vielleicht konnte er helfen.
Miss Seeton kam zurück. »Entschuldigen Sie, ich mußte die Küchentür aufmachen, damit der Dampf abzieht.«
»Miss Seeton?« fragte Constable Potter.
»Ja, bitte?«
»Ich habe Anweisung, Ihnen das Datum von dem Termin zu sagen, bei dem Sie anwesend sein müssen.«
»Termin, Potter?« Der Pfarrer hob im Geiste einen Knüttel und schwang ihn in der Luft. »Was soll das heißen?«
»Lassen Sie nur, Mr. Treeves«, sagte Miss Seeton beschwichtigend. »Ich weiß, worum es geht.«
»Aber ich nicht.« Er blieb grimmig. »Wobei muß Miss Seeton anwesend sein? Nun sagen Sie schon, Potter.«
»Bei dem Inquest, Sir. Miss Seeton ist als Zeugin vorgeladen.«
Arthur Treeves erschrak. »Inquest? Um Himmels willen aber es ist doch niemand ums Leben gekommen?!« Doch, irgend jemand war tot. Hatte Molly nicht so was gesagt? Jemand war bei einer Schlägerei in London. Und Miss Seeton. oh, wie entsetzlich. Sicherlich, die ganze Schuld konnte man ihr nicht in die Schuhe schieben, wenn man es nur richtig darstellte. Kein Zweifel, wo seine Pflicht lag. Er mußte sie begleiten, ihr beistehen. »Wann und wo findet der Inquest statt, Potter?«
»Übermorgen Sir, um 11 Uhr 30. Ich habe Ihnen alles aufgeschrieben.« Er reichte Miss Seeton einen Zettel.
»11 Uhr 30, ach herrje, das heißt der Frühzug. Sie können es mir überlassen, Potter, wir sind pünktlich dort.«
»Nein, nicht Sie, Mr. Treeves«, protestierte Miss Seeton. »Das kommt gar nicht in Frage. Man hat
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