Miss Seetons erster Fall
mir gesagt, daß es nicht lange dauert. Es ist alles höchst unerfreulich.«
»Um so besser, wenn ich dabei bin.«
»Nein, wirklich, es ist sehr nett von Ihnen, aber.«
»Kein Wort weiter, ich begleite Sie. Ich sage Ihnen morgen Bescheid, wann der Zug fährt, und bestelle einen Wagen von Crabbe. Ja, jetzt muß ich leider gehen. Und bitte, grübeln Sie nicht über diese unerquickliche Sache nach. Man muß die Dinge nehmen, wie sie kommen.« Er ging, und Constable Potter schloß sich ihm an. »Alles höchst unerquicklich«, murmelte der Pfarrer. »Aber ich halte es für meine Pflicht, dabei zu sein.«
»Bestimmt ist sie froh, wenn Sie mitfahren, Sir. Unter uns -London, das heißt der Yard, hat mich angewiesen, ein Auge auf sie zu haben.« Aus allen Knopflöchern platzte ihm der Stolz, mit dem allerobersten Boss unmittelbaren Kontakt zu haben.
»So?« Die schlimmsten Ahnungen des Pfarrers schienen sich zu bestätigen. Düster wiegte er den Kopf hin und her: »Tz, tz, tz.« In Gedanken versunken ging er nach Haus.
»Miss Seeton?«
Als sich auf Nigels Klopfen hin nichts gerührt hatte, war er um das Haus herum und in den Garten gegangen. Auch er hätte den Willkommensgruß seiner Eltern mit einem Zettel hinterlassen können, doch er hatte seine eigenen Gründe, Miss Seeton einen Besuch abzustatten, und der Auftrag seiner Mutter hatte ihm den notwendigen Vorwand geliefert. Zuerst hatte er niemand im Garten entdeckt und schon geglaubt, sowohl Miss Seeton als auch seine Chance verpaßt zu haben, aber dann hatte er gesehen, daß sich hinter den Büschen etwas bewegte, die das Küchenkräuterbeet, den Hühnerstall und den Gemüsegarten abschirmten, und so war er über den Rasen gegangen, um festzustellen, was es war. Es war nicht, wie er zunächst gedacht hatte, der Flügel eines Vogels, sondern Miss Seetons Hut.
»Mein Name ist Colvenden«, sagte er, als sie sich zu ihm umdrehte. »Hoffentlich sind Sie nicht böse, daß ich hier so einfach einbreche. Ich hab’ vorn geklopft, aber das konnten Sie nicht hören. Sie kennen meinen Vater, glaube ich.«
»O ja. Zweimal, glaube ich, bin ich mit Sir George zusammengetroffen. Guten Tag, Mr. Colvenden.«
»Nigel. Im Moment bin ich Ersatzmann für meine Mutter. Sie wäre selbst angerückt, um Sie an Land gehen zu sehen, aber heute nachmittag ist sie verhindert, und Vater liegt wegen der Karnickel in den Federn – also bin ich es bloß, leider. Mit einem Dutzend Eier.«
»Aber nein, Mr. Colvenden, das ist furchtbar nett, und bitte, sagen Sie Lady Colvenden meinen herzlichsten Dank, aber ich kann wirklich keine mehr annehmen. Es ist mir zu peinlich – aber gerade Eier. Sehen Sie.« Sie deutete zum Hühnerstall: »Wir legen selber welche.«
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Nigel eine Vision: Miss Seeton, mit dem Hut auf dem Kopf, auf einem gewaltigen Nest sitzend, kommandierte ihre Hennen beim Countdown – drei. zwei. eins. Die Vision entschwand. »Entschuldigung«, hustete er. »Hab’ was in die Kehle bekommen. Apropos Hühner – wissen Sie, die Mauer hinter dem Stall sollte mindestens drei Fuß höher sein.«
Miss Seeton blickte hin. Tatsächlich, die Mauer hinten war etwas niedriger als an der Seite entlang des Rasens. Natürlich, weil an der Ecke ein Baum stand, merkte man es zunächst nicht; vielleicht wäre es ihr nie aufgefallen, wenn sie nicht darauf aufmerksam gemacht worden wäre. Die Mauer war da nur ein bißchen höher als das Stalldach und nicht so hoch wie das Drahtgitter vom Auslauf vorn. Sie sah zum Haus zurück: Ah ja, das war der Grund, natürlich – damit der Blick zu den Bäumen am Kanal und über die Felder dahinter nicht versperrt war. Also ließ man die Mauer am besten so, wie sie war. Weshalb sie höher ziehen? »Warum?« fragte sie. Nigel lachte. »Weil manche Dorfgenies drüberklettern, um Eier zu klauen.«
»Ah ja. Deshalb also hat Martha den zweiten Schlüssel für das Gartentörchen und besteht darauf, daß es immer abgeschlossen ist.«
»Wissen Sie.« Er verstummte. Es war lächerlich. Sie war völlig anders, als er erwartet hatte. Nach den Zeitungsmeldungen hatte er sich vorgestellt. ja, was eigentlich? Er wußte es nicht mehr genau. Vermutlich ein robustes, kriegerisches Weibsbild, energisch, tyrannisch, so etwas wie ein Feldwebel. Bestimmt nicht eine kleine, nette, harmlose Person wie die alte Dame, die vor ihm stand. In seiner Phantasie hatte er eine Miss Seeton gesehen, die ihm als ersehnte Lösung seines Problems erschienen
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