Miss Seetons erster Fall
Fingerabdrücke waren nicht registriert – also schien er Amateur zu sein. Er hatte nichts bei sich, wodurch man ihn hätte identifizieren können – also schien er ein Profi zu sein. Der von ihm benutzte Lieferwagen, ein umgebauter alter Buick, dessen Aufbau für das Chassis viel zu groß war, war in Brettenden gestohlen worden; der Eigentümer hatte den Diebstahl erst bemerkt, als ihm der Wagen zurückgebracht wurde. Versuche, die Identität des Schuldigen durch die Veröffentlichung seiner Fotografie festzustellen, führte zu der üblichen Überschwemmung mit Hinweisen, die sämtlich unbrauchbar waren. Vorführungen des Schuldigen zusammen mit anderen Häftlingen vor Mitgliedern des Singing Swan, vor Nigel Colvenden und vor Angela Venning wurden arrangiert. Die sieben verdächtigen Clubmitglieder und Angela sagten mit betonter Entschiedenheit, sie hätten ihn nie gesehen. Die Betonung überzeugte die Polizei vom Gegenteil, aber weniger Feinhörige konnten ihnen womöglich glauben. Von anderen Mitgliedern, die in der Nacht des Hühnerkrieges im Club gewesen waren, meinten drei – zwei davon waren allerdings nicht ganz sicher –, der Häftling habe mit anderen an einem Ecktisch gesessen. Zwei weitere behaupteten entschieden, er sei nicht im Club gewesen. Diese Aussagen hoben einander auf. Nigel meinte, der Schuldige sei einer der beiden Fremden vom Parkplatz, doch die Beleuchtung sei zu schlecht gewesen, und ohne seine Stimme zu hören, könne er nichts mit Bestimmtheit sagen. Der Schuldige blieb stumm und das Belastungsmaterial unzureichend.
Die Polizei erwog, eine Fristverlängerung zu beantragen, kam aber zu dem Schluß, daß der Fall um so lächerlicher werden mußte, je länger er dauerte, falls der Häftling weiterhin schwieg. Und da die Anklage auf Entführung und gesetzeswidrige Körperverletzung lauten würde, war ohnehin damit zu rechnen, daß der Fall an das Schwurgericht in Maidstone überwiesen werden würde, und damit gewann die Polizei automatisch vor Beginn des eigentlichen Prozesses Zeit.
Dem jungen Mann war Rechtsbeistand gewährt worden, und da sein Anwalt nichts gegen Publicity hatte, stürzte er sich begeistert in den Kampf. Zunächst machte er geltend, die Anklage sei gegenstandslos, denn sein Mandant sei eher das Opfer als der Angreifer gewesen. Dann ließ er, da er durch keinerlei Instruktionen seines Mandanten gebunden war, seiner Phantasie freien Lauf, und somit wurde rasch klar, welche Linie die Verteidigung vor Gericht einschlagen würde. Die Polizei hatte den Häftling im Krankenhaus unter Beobachtung gestellt, und in dem schriftlichen Bericht des Arztes hieß es, es seien weder körperliche noch organische Schäden, noch offene Anzeichen von Unzurechnungsfähigkeit festzustellen. Mündlich äußerte sich der Arzt klarer: »Er ist höllisch gerissen!« Ein von der Verteidigung hinzugezogener Arzt bestätigte den Befund, gab aber zu bedenken, daß es unmöglich sei, eindeutig festzustellen, wie sich der Schock und das Eingesperrtsein in gefesseltem Zustand im rückwärtigen Teil eines fahrenden Lieferwagens auf einen äußerst nervösen Menschen ausgewirkt habe; ein zeitweiliger Gedächtnisverlust und ein Aussetzen des Sprechvermögens seien nicht auszuschließen. Der von der Anklage bestellte Arzt, der noch einmal aufgerufen wurde, konnte diesen Einwand nicht widerlegen. Das Match der medizinischen Fachleute endete also mit einem Unentschieden und der Festsetzung eines Wiederholungsspieles vor dem Schwurgericht in Maidstone.
Was die Entführung betraf, so klammerte sich die Verteidigung an Miss Seetons Vermutung, es habe sich um »eine Heimzahlung für einen verhinderten Eierdiebstahl« gehandelt, um die Straftat in milderem Licht erscheinen zu lassen, und was die gesetzeswidrige Körperverletzung anging, so spielte der stämmige Lastwagenfahrer der Verteidigung in die Hand, indem er sagte: »Der Rotschopf hat sich wie ’n Verrückter aufgeführt.«
Nach Lage der Dinge sah es so aus, überlegte Superintendent Delphick, daß der verflixte Halbstarke als Angeklagter ohne Vorstrafen straflos davonkommen würde, wobei ihm das Gericht noch sein Bedauern wegen des erlittenen Ungemachs aussprechen würde. Der LKW-Fahrer konnte von Glück sagen, wenn ihm keine Anklage wegen Körperverletzung angehängt würde, und Miss Seeton konnte heilfroh sein, wenn sie mit einer Geldbuße wegen mutwilliger Beschädigung eines fremden Fahrzeugs davonkäme.
Der Superintendent, entschlossen, sich
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