Miss Seetons erster Fall
einer Geschäftsstraße, die sich, über eine Meile lang, von East Cross nach West Cross erstreckt. Eine Menge Seitenstraßen und Gassen zweigen von ihr ab, aber da sich in den meisten keine Läden befinden, sind sie für den Ortsfremden uninteressant. An East Cross gabelt sich die High Street; die linke Gabelung, Virgin’s Lane, wendet sich scharf nach links und schwingt sich in langer Steigung zum Ortsausgang hinauf. Virgin’s Lane ist zwar breit und hat viele Läden, doch gilt es nicht als Brettenden im engeren Sinne; das Viertel führt vielmehr die Bezeichnung Les Marys. Die rechte Gabelung heißt Plummergen Road – das in Plummergen endende Stück heißt Brettenden Road. Das nimmt Reisenden aus beiden Richtungen jeden Zweifel über ihr Reiseziel, wenn auch nicht ganz klar ist, welcher Straßenname offiziell richtig ist. Obwohl man in Plummergen gezwungen ist, sich wegen bestimmter Bedarfsartikel nach Brettenden zu begeben, ist auch Plummergen recht gut mit Läden ausgestattet.
Die Hauptstraße, oder richtiger, die Straße – denn Plummergen hat nur die eine und gibt es auch zu – ist gerade, breit und baumbestanden, eine Viertelmeile lang, rechts und links von einem Wirrwarr aus Häusern, Katen und Läden in den Baustilen der letzten vier Jahrhunderte begrenzt, darunter die Polizeistation, zwei Gastwirtschaften, eine Schmiede und eine Tankstelle. Der Ort ist nicht schön, aber reizvoll, und hatte bei der letzten Bevölkerungszählung fünfhundert – und einen Einwohner aufzuweisen.
Abgesehen von der winzigen Bäckerei in dem Haus mit Laubengang – Süßigkeiten, Tabak, Kuchen und Brot, letzteres nicht mehr aus eigener Herstellung – und dem alten Haus, das die ausgezeichnete Metzgerei beherbergt – Fleisch, Eier, außerdem Puter auf kurzfristige Bestellung –, dessen scheußliche, mit Schindeln verkleidete Front ihm seit zweihundert Jahren ein merkwürdig provisorisches Aussehen gibt, verfügt Plummergen über drei Geschäfte: das Kolonialwarengeschäft, den Kurzwarenladen und die Post. Alle drei führen Lebensmittel, darunter auch Obst und Gemüse, außerdem Süßigkeiten, Tabak, Weine und Spirituosen und haben wohlsortierte Tiefkühltruhen. Der Kurzwarenhändler verkauft zusätzlich Souvenirs aus Porzellan, Ansichtspostkarten, Textilien und Handarbeitsmaterial. Die Post, das größte der Geschäfte, handelt mit Eisenwaren, Porzellan, Glas, Kosmetika, Gummistiefeln, Büchern und hat sogar – hinter Speck, Käse und Butter – eine kleine vergitterte Theke, die den postalischen Nebeneinkünften dient.
Miss Seetons Häuschen, etwas von der Straße zurückgesetzt und mit einem Vorgarten versehen, liegt an dem einen Ende des Dorfes und blickt zur Straße. Der Name am Tor, Sweetbriars, wird von Ortsunkundigen als Postanschrift benutzt. In Plummergen selbst heißt es ›Old Mrs. Bannet’s‹. Die meisten Häuser und Häuschen ringsum tragen den Namen ehemaliger Besitzer, nicht etwa wegen dörflicher Vorurteile, sondern aus praktischen Erwägungen. Häuser werden ständig verkauft und gekauft, häufig von Ortsansässigen selber. Familien, die größer geworden sind, ziehen in größere Häuser; später geschieht das Umgekehrte, und so ist es nichts Ungewöhnliches, dort zu enden, wo man angefangen hat – in dem Haus zu sterben, in dem man geboren ist. Daß Mrs. Bannets Name schon zu ihren Lebzeiten für würdig befunden wurde, auf ein Haus übertragen zu werden, kam einem Ritterschlag nahe. Als die Dame auf die Achtzig ging und seit rund fünfzig Jahren in demselben Haus gewohnt hatte, hielt man es für unwahrscheinlich, daß sie vor ihrem letzten Umzug auf die andere Straßenseite, zum Friedhof, noch einmal die Wohnung wechseln würde. Die Kirche erhebt sich bescheiden auf einem Platz am südlichen Ende der Dorfstraße, dem kurzen Weg gegenüber, der zu ›Old Mrs. Bannet’s‹ führt. Neben der Kirche steht das Pfarrhaus, dessen Garten an den Friedhof stößt. Es ist ein viktorianischer Bau; die häßliche Fassade ist dem Blick durch Efeubewuchs entzogen. Seine Geräumigkeit, einer viktorianischen Familie angemessen, erwies sich in neuer Zeit als übertrieben, und so wurde das Haus in zwei Wohnungen geteilt. Selbst so ist die übriggebliebene Hälfte für den gegenwärtigen Amtsinhaber, Reverend Arthur Treeves, viel zu groß – er ist Junggeselle, dem eine unverheiratete Schwester den Haushalt führt. Übrigens führt sie nicht nur im Haus das Regiment, sie kommandiert auch ihn, regelt
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