Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Miss Wyoming

Miss Wyoming

Titel: Miss Wyoming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
Vom Netzwerk:
ungeachtet seiner Körperhygiene, beinahe alle Türen offen, ohne dass er skeptische Blicke auf sich zog. Sie ließ ihn lässig, arbeitsam und solide wirken - ein magischer Bote.
    Freundschaften schloss er nicht, aber zu seiner Überraschung konnte er bei ein paar Frauen landen, die auf seine UPS-Kluft abfuhren. Er hasste sich hinterher dafür, weniger weil die Erlebnisse so einen schalen Beigeschmack hatten, sondern weil er das Gefühl hatte, dass solche Eskapaden gegen die Regeln waren - wodurch ihm plötzlich klar wurde, dass es für ihn tatsächlich Regeln gab, etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Offenbar besaß er ein moralisches Empfinden, ein ausgesprochen neues Gefühl. Vielleicht veränderte ihn das Leben auf der Straße doch.
    Sein erstes Schäferstündchen hatte er mit einer Frau - neunundzwanzig? zweiunddreißig? -, die unter Spannung stand wie eine zu stramme Gitarrensaite. Sie las in einem BP-Tankstellenshop im Architectural Digest. Ihre Blicke trafen sich. John sagte: »Ich finde, seit die sich nicht mehr nur mit reiner Architektur beschäftigen, sondern lieber die Häuser der Stars präsentieren, geht es mit dieser Zeitschrift bergab.« Und ab ging's zu ihrem Apartment, das ganz in der Nähe lag. Sie war so ausgehungert, dass er es mit der Angst bekam, und als sie sah, dass John keine Unterwäsche trug, röhrte sie wie ein wütender Elch. In jener Nacht schlief er das erste Mal seit Wochen auf einer Matratze, doch am Morgen, als sie zur Arbeit ging - Datenverarbeitung in einer Dean-Witter-Filiale -, wurde er kurzerhand auf die Straße gesetzt. Am nächsten Abend hatte er wieder Erfolg, diesmal bei einer pummeligen jungen Mutter mit ungepflegten Haaren, die mit ihrem acht Monate alten Baby an einem Pottery-Barn-Möbelgeschäft vorbeischob. Auch sie wohnte in der Nähe und lud John hinterher noch ein, zum Essen dazubleiben - grüner Salat und ein Boeuf-Stroganoff-Fertiggericht, das er ohne ein Wort verspeiste. Ihm fiel auf, wie mutterseelenallein die Frau mit ihrem brüllenden Kind war. Plötzlich wurde ihm klar, dass seine Form der Einsamkeit ein Luxus war, den er ebenso gewählt und bezahlt hatte wie drei Wochen in der kenianischen Steppe oder einen kirschroten Ferrari. Wahre Einsamkeit war nichts, was eine Sekretärin für einen auskundschaftete, um dann einen guten Preis dafür auszuhandeln. Wahre Einsamkeit machte einen fertig, und sie stank nach Hoffnungslosigkeit.
    John begann, seine eigene Lage als läppisch zu betrachten. Die einzige Möglichkeit, sie aufzuwerten, war, sich noch tiefer, rückhaltloser und blinder in das Leben auf der Straße zu stürzen und ein gewisses Einfühlungsvermögen für eine größere Bandbreite menschlicher Emotionen zu erlangen. Die Frau bat John, über Nacht zu bleiben, aber er lehnte ab, aus Angst, sie könnte ihr Herz zu sehr an ihn hängen und wäre dann noch einsamer, wenn er sich wieder auf den Weg machte. In Riverside County sprang er auf einen offenen Güterwaggon auf, der ihn unter einem milchigen Nachthimmel nach Arizona brachte. Die rhythmischen Fahrgeräusche schläferten ihn ein, und als er erwachte, blickte er auf rosafarbene Canyons und korallenrote Wolken. Am anderen Ende des Waggons lehnte sich ein weiterer Nobody über den Rand, um in Zeichensprache mit einem unsichtbaren Kumpel zu sprechen. John machte keine Anstalten, sich mit ihm zu unterhalten. Unter Nobodys war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass sie einander in Ruhe ließen, und es gab so viele von ihnen! Sobald John wusste, worauf er zu achten hatte, sah er sie überall. Auf die gleiche Weise, wie sein Gehirn Telefonmasten weglöschte, wenn er eine Landschaft betrachtete, hatte es die Nobodys ausgeblendet.
    Nobodys hatten ihre Familie, ihre Kindheit, ihren Job, ihre Geliebte, ihr berufliches Können, ihren Besitz, ihre emotionalen Bindungen und ihre Hoffnungen aufgegeben. Sie waren nach wie vor Menschen, aber ein Teil von ihnen war zum Tier geworden. Zwei Monate nach Beginn seiner Wanderschaft war auch John mehr oder weniger zum Nobody geworden. Er erinnerte sich, wie er in seiner Zeit an der UCLA - den sonnigen Tagen der sinnlosen Seminare, der großen, unmöblierten Häuser voller Rockstars, der Eimer voller Brathähnchen und der Musik, die sich ihm einprägte wie eine Gravur in Sterlingsilber - einmal mit Ivan in dem alten orangefarbenen 260-Z umhergegondelt war. Sie waren auf dem Heimweg von einer misslungenen Party im Valley und hatten gerade die Hollywood Hills erreicht - Los

Weitere Kostenlose Bücher