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Miss Wyoming

Miss Wyoming

Titel: Miss Wyoming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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»Ich zapfe gern selbst das Benzin für mein Auto, Ivan. Ich halte immer an einer Selbstbedienungssäule. Hab ich dir je erzählt, warum?« 
    »Um dich mal wieder als Normalo zu fühlen?«, lachte Ivan. »Nein. Weil ich gern zusehe, wie die Zahlen auf der Anzeige durchlaufen. Ich stelle mir dann vor, jede Zahl stünde für ein Jahr. Es macht mir Spaß zuzusehen, wie die Geschichte im Jahr null beginnt und immer weiter vorwärts rattert. Mittelalter ... Renaissance ... Vermeer ... 1776 ... Eisenbahnen ... Panama ... zack, zack, zack ... die Depression ... der Zweite Weltkrieg ... die Vorstadt ... JFK ... Vietnam ... Disko ... der Mount St. Helens ... Denver Clan ... und dann, RUMS!, geht's nicht mehr weiter. Wir sind in der Gegenwart angekommen.« 
    »Ja und?«
    »Und? Es gibt diese kurze, magische Zeitspanne, die entsteht, wenn die Anzeige das Jahr, in dem wir uns gerade befinden, um ein paar Zahlen überrundet. Immer wenn ich jenseits des aktuellen Datums lande, kann ich, und sei es nur für den Bruchteil einer Sekunde, die Zukunft vielleicht nicht sehen, aber zumindest spüren.«
    »Und?«, fragte Ivan. Er hatte viel Geduld mit John. »Dadurch bin ich sozusagen der Erste - in der Zukunft. Ein Pionier.«
    »Das ist es, was du sein möchtest - ein Pionier?« 
    »Ja.«
    Ivan schwieg und fragte John dann nicht ohne Hintergedanken: »John-O, hast du den Reifendruck gecheckt?«
    »Nö.«
    Ivan stieg aus dem Wagen, besorgte sich beim Tankwart eine Pumpe und prüfte die Reifen. »Du musst dich auch um die kleinen Dinge kümmern, John. Alles zählt, Großes wie Kleines.«
     

Kapitel Fünfzehn
     
     
    Als John sein Abendessen mit Ivan und Nylla beendet hatte, ging er hinunter ins Gästehaus. Doris, die sich geweigert hatte, mit dem Crackbaby MacKenzie zu essen, schlief. Zum ersten Mal seit seinem gescheiterten Walkout hatte er nicht das beklemmende Gefühl, in seiner Wirbelsäule stecke kalter Stahl. Er rief sich die flüchtigen Affären während seines Landstreicherlebens in Erinnerung, und dann dachte er an Susan. Beim Offnen der Haustür war ihm in den Sinn gekommen, dass vielleicht er den Ausdruck von Einsamkeit wegwischen konnte, den er in ihren Augen gesehen hatte - denn mittlerweile war er ziemlich sicher, dass es tatsächlich Einsamkeit war, trotz ihres Lächelns und ihrer Vertraulichkeiten. Wenn er auf seiner Wanderschaft etwas gelernt hatte, dann, dass Einsamkeit und offene Gespräche darüber das größte Tabu der Welt sind. Weder Sex noch Politik und Religion, nicht einmal Misserfolg können da mithalten. Einsamkeit schafft es, einen Raum schlagartig zu leeren. Susan war möglicherweise mehr für ihn als nur eine Position in den Movie-Charts. Vielleicht bot sie ihm die Chance, wenigstens einmal helfen zu können und vielleicht mehr aus sich herauszuholen als nur ein paar zündende Verkaufsargumente für einen bedeutungslosen Film. Vielleicht würde in ihnen beiden etwas keimen und wachsen, das sie zu besseren Menschen machte.
    Er rief bei ihr an und erwischte wieder nur ihren Anrufbeantworter. Er legte auf. Er kam sich vor wie sechzehn.

    Als Susan nach einer Stunde noch nicht zurückgerufen hatte, stellte John fest, dass sein Herz raste und er sich auf nichts konzentrieren konnte. Um Mitternacht war er so zappelig wie sonst nur auf Drogen, nur dass die angenehmen Seiten dabei fehlten. Er beschloss, die Nachrichten von seinem Anrufbeantworter auf sein Handy umzuleiten und dann ein paar Filme ausleihen zu fahren, in denen Susan mitspielte. Er wollte herausfinden, ob der einsame Ausdruck in ihren Augen auch früher schon da gewesen war. Außerdem hatte er einfach das Bedürfnis, ihr Gesicht zu sehen. Das ist es, was Fans für Stars empfinden, dachte er. So fühlt sich das also an. Für John gehörten Stars einfach ebenso wie Hausangestellte, Agenten und Leute vom Partyservice zu den Menschen, die durch sein Haus strömten. Nun jedoch begriff er, was der Reiz von Boulevardzeitungen und Fanzines war.
    Er nahm Ivans Chrysler und fuhr runter nach West Hollywood. Weil dieser Wagen so unauffällig war, benutzten Ivan und Nylla ihn am liebsten. Er sah weder aus wie ein Mietwagen noch, um mit Doris zu sprechen, »als gehöre er einem Angehörigen einer ethnischen Minderheit oder einem paranoiden Kleinbürger«.
    Der Verkehr war erträglich; die nächtliche Dunkelheit fühlte sich noch frisch und klar an. Er fand eine Videothek, West Side Video. Beim Eintreten stellte er fest, dass es sich- um die Art Laden handelte,

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