Missbraucht
trat er zu Frau Ulbrich an deren Schreibtisch und sagte leise:
"Frau Ulbrich, entschuldigen sie bitte die Störung, aber ich möchte Mathae mitnehmen. Das Jugendamt will einen Bericht über seine Entwicklung wegen der weiterführenden Schule und von daher würde ich ganz gerne noch einmal mit ihm reden, bevor ich etwas wegschicke, dass ich nachher nicht mehr korrigieren kann." Er hätte Frau Ulbrich keine Rechenschaft ablegen müssen, aber erstens gehörte es sich und zweitens war eine Erklärung unerlässlich für die Glaubwürdigkeit. Frau Ulbricht war ein schmächtiges Persönchen, welchem auch die offenen Sommerschuhe, mit den hohen Absätzen nicht mehr Größe verleihen konnten. Sie schob ihre Brille auf die Nasenspitze und schaute Heb darüber hinweg her an. Friedhelm Heb rechnete damit, dass alle Angestellten von der Polizei befragt werden würden, wenn Mathaes Verschwinden bekannt wurde. Es gehörte zu seinem Plan, und dass das Jugendamt zum Ende des Schuljahres, tatsächlich einen Bericht angefordert hatte, spielte ihm in die Karten.
"Natürlich ", antwortete sie. "Mathae, der Herr Doktor möchte, dass du mit ihm kommst. Pack deine Sachen zusammen und begleite ihn. Was du jetzt nicht geschafft hast, musst du eben nachher noch machen. Kommst du bitte", sagte Frau Ulbrich und ließ keinen Zweifel daran, dass jeder noch so kleine Einwand des Jungen zwecklos war.
Mathae war ohnehin n iemand, der widersprochen hätte. Er nahm alles, was man von ihm erwartete, mit seiner ihm eigentümlichen Selbstverständlichkeit hin.
Mathae packte seine Sachen zusammen und schob den Stuhl akkurat unter den kleinen Schreibtisch. Dann trat er vor und stellte sich neben den Heimleiter. Den Kopf hielt er gesenkt und sein Blick war auf den Boden gerichtet. Diese Demutshaltung, die man ihm in Rumänien unter fürchterlichen Bedingungen gelehrt hatte, legte der hübsche Junge anderen gegenüber immer an den Tag. Nur im Umgang, mit seiner Schwester wirkte er ein Stück freier. Wobei es sonderbar war, wie verantwortungsvoll er sich dabei zeigte. Einem Jungen in seinem Alter hätte man es nie und nimmer zugetraut. Dieses Verhalten war für die Kinderpsychologen, denen er nach seiner Ankunft in Deutschland vorgestellt wurde und den Pädagogen, in deren Obhut er gegeben wurde, ein deutlicher Hinweis darauf, dass Mathaes Persönlichkeit im Heim eine abnorme Entwicklung genommen hatte, die man nur mit Vertrauen und Zuneigung auf das normale Maß eines heranwachsenden Kindes hin steuern konnte. Dem genauen Betrachter hätte auffallen können, wie der Junge förmlich zusammenzuckte, als Friedhelm Heb ihm beim Verlassen des Zimmers, wie ein Vater die Hand auf die Schulter legte.
Im Büro von Heb nahm Mathae in einem der Stühle Platz und wartete schweigend auf das, was der Doktor von ihm wollte. In seinem Kopf hatte es sich eingebrannt, dass es mit Ekel und Schmerz zu tun hatte. Mathae hatte Angst, auch wenn oder gerade weil ihm Heb in den letzten Tagen so gut zugeredet hatte. Es war weniger die Angst um sich, als die Angst um Nadia.
"Hör mal Mathae, ich möchte, dass du hoch zu meiner Frau gehst“, er kam gleich zur Sache. Der Junge nickte nur und schaute verängstigt auf den Boden. Gut so dachte der Doktor. Ihm war es lieber, den direkten Blickkontakt mit Mathae zu vermeiden. "Sie wird dir ein paar Akten geben, die bringst du mir, ja? Und weil Martina dich so sehr mag, wäre es schön, wenn du ihr ein bisschen Gesellschaft leisten würdest. Sie freut sich bestimmt. Würdest du das machen?"
Ein leises "Ja" war die Antwort.
"Gut, ich glaube, dann bekommst du sogar ein Eis von ihr. Das schmeckt doch gut, jetzt bei dem Wetter. Du magst doch Eis?"
Wieder das gleiche leise "Ja".
"Na dann geh mal, sie wird sich freuen und in einer Stunde kommst du wieder zu mir."
Heb empfand Hass und Abscheu gegenüber sich selbst, denn er wusste, dass er den Jungen nie mehr wiedersehen würde, wenn Uwe Stromberg funktionierte.
*
29.06.1994
Der Hausmeisterkeller war ein großer, mindestens achtzig Quadratmeter großer Raum, von dem man ebenerdig auf das Gelände des Jugendheimes gelangen konnte. Eigentlich war die Bezeichnung Keller unangebracht, aber sie hatte sich bei den Insassen so vertraut gemacht. Ein großes Garagentor aus Metall ermöglichte dem Hausmeister den stattlichen Rasentraktor samt Anhänger und sonstigem Zubehör unterzustellen. Die Ausstattung mit Werkzeug machte jeden begeisterten Handwerker wunschlos glücklich. Das meiste
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