Missbraucht
vor ihnen die Polizei mit dem Unfallgeschehen beschäftigt war, mehr oder weniger Nervenflattern bekommen wegen der brisanten Fracht, die Uwe im Kofferraum transportierte. Letztendlich aber konnten Nicoletta und Uwe unbehelligt die Unfallstelle passieren. Nicoletta wusste, dass Ilia Popescu sie bestimmt schon ungeduldig erwartete. Außerdem wusste sie, dass ihre Verspätung ihm die Laune ohnehin schon ordentlich vermiest haben würde, zumal er über ihren Anruf und die kurze telefonische Berichterstattung bezüglich der vorliegenden Umstände alles andere als erfreut war. Die Uhr in ihrem Corsa zeigte fünf Minuten nach halb vier. Über eine halbe Stunde länger als kalkuliert hatten sie wegen des Unfalls in der Baustelle gebraucht. Unterwegs hatten sie auf einem Rastplatz hinter dem Frankfurter Kreuz einen kurzen Stop eingelegt und mit Nicolettas Wagenheber das Handy ihres Opfers zerschlagen, nicht ohne vorher die SIM-Karte herausgeholt und sämtliche Fingerabdrücke beseitigt zu haben. Den Schrott entsorgten sie vorsichtshalber auf zwei Mülltonnen und setzten dann ihre Fahrt unverzüglich fort. Nicoletta war ein Profi und das machte sie gefährlich.
Schlichte Holzgeländer, die auf einem circa einen Meter breiten Rasenstreifen eingelassen waren, trennten die große Fläche in mehrere Felder, auf denen jeweils zehn Fahrzeuge Platz zum Parken fanden.
"Schön hier", bemerkte Uwe leise, nur um irgendetwas zu sagen, als sie am Ziel angekommen waren.
"Hm ...", war alles, was Nicoletta antwortete. Sie schaute sich nach allen Seiten um.
"Vorhin mit den Bullen, war ja ein Ding", erneut versuchte Uwe ein Gespräch zu beginnen, aber seine Begleiterin ging nicht darauf ein. Sie nickte nur kurz und Uwe bildete sich ein, ein Lächeln von ihr gesehen zu haben.
Es war eine dieser Sommernächte, in denen es nicht richtig dunkel wird. Von dieser Seite war das Gelände mit einem Stahlzaun umgeben, in dem ein großes, abschließbares und aus zwei Flügeln bestehendes verzinktes Tor eingebunden war. Die idyllische Lage des Hauses war unverkennbar. Einsam lag das Anwesen abseits der Stadt. Ein Platz für Romantiker. Der etwas tiefer gelegene See schimmerte in dunkelstem Grün im Mondlicht. Rund dreißig Meter vom Ufer war eine hölzerne Badeplattform zu erkennen, die ganz sanft hin und her schaukelnd auf dem Wasser lag. Genauso, wie die acht Ruderboote, die an einem hölzernen Steg befestigt waren. Alles war ruhig, nicht die kleinste Kleinigkeit war zu hören. Die Stille wirkte auf die beiden nächtlichen Besucher irgendwie bedrohlich und geheimnisvoll.
"Bleib du hier bei den Autos. Ich geh mal schauen, wo ich Ilia finde." Nicoletta ließ Uwe nicht eine Sekunde im Unklaren darüber, wer das Kommando führte.
"Soll ich nicht lieber mitkommen?"
"Nein, du wartest hier. Er weiß nicht, dass ich jemanden mitbringe."
"Okay!"
Nicoletta ging Richtung Haus. Das Gebäude bestand aus mehreren, über die Jahre immer wieder erweiterten Trakten. Auf der ihnen zugewandten, rückwärtigen Seite des Hauses befand sich eine Stahltür, die aber unmöglich die Eingangstür des Lokals sein konnte. In Kopfhöhe reihten sich fast über die gesamte Front schmale, weiße Oberlichter aneinander. Es hatte sich von einer Schutzhütte über einen gemauerten Imbiss bis hin zu einem großen Ausflugslokal entwickelt. Den größten Teil des Gebäudes nahm der große Schank-und Speiseraum ein, der von ihnen aus gesehen rechts lag. Hier befand sich auch der offizielle Besuchereingang. Alles war duster. Aus ihrer Erfahrung heraus wusste Nicoletta, dass sie Ilia dort nicht finden würde. Er bevorzugte den Hintergrund. Vielleicht würde er sie jetzt schon beobachten. Ein hämisches Grinsen zog über ihr Gesicht. Sie ahnte, dass sie, seitdem sie aus dem Auto gestiegen war, unter Beobachtung stand!
Sie ging den gepflasterten Weg entlang, der einen Rundgang ums Haus bildete. Nirgends war ein Licht zu sehen, dabei hatte sie ihr Kommen doch angekündigt, auch wenn ihr Zeitplan , durch den Unfall auf den Kopf gestellt war. Die Nacht war nicht allzu dunkel, aber sowohl auf der Giebelseite als auch auf der dem See zugewandten Front des Gebäudes, wurde das Mondlicht von den hier stehenden hohen Bäumen, die teils mächtige Kronen trugen, absorbiert. Nicoletta hatte das Gefühl in ein schwarzes Loch zu gehen. Sie war nicht ängstlich, aber sich hier auf diesem unbekannten Terrain zu bewegen und zu wissen, dass irgendwo Ilia steckte, verschaffte ihr ein mulmiges Gefühl.
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