Missbraucht
Nach Beendigung der Schule kam er ständig mit dem Gesetz in Konflikt. Es waren ausnahmslos kleinere Delikte, wie Fahren ohne Führerschein oder auch Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, die ihm in der Summe schon eine sechsmonatige Freiheitsstrafe eingebracht hatten. Seine Strafe dafür, hatte er in der Vollzugsanstalt Koblenz abgesessen. Der zuständige Richter stufte ihn trotz seiner Vergehen als harmlos ein und deshalb kam Uwe in den offenen Vollzug. Tagsüber arbeitete er bei einer alteingesessenen Koblenzer Baufirma und half, die südlichen Stadtteile neu zu verkabeln. Nach seiner Entlassung gönnte er sich erst einmal eine Auszeit vom geregelten Arbeitsleben und verfiel zum Missfallen seiner Mutter wieder in den alten Trott. An eine Ausbildung war nicht zu denken. Die Jobs, die er hatte, entpuppten sich alle als zeitlich arg begrenzt und so hing er größtenteils zu Hause ab, während seine Mutter als Küchenkraft im Jugendheim und als Putzhilfe im Haushalt von Frank Baumel das magere Auskommen sicherte. Baumel war es schließlich, der Uwe bei Dr. Heb im Jugendheim als Hausmeistergehilfe unterbrachte. Hier hatte er Nicoletta, eine Arbeitskollegin seiner Mutter kennengelernt. Es war nicht so, dass Uwe keinerlei sexuelle Erfahrung hatte, immerhin war er ein recht gut aussehender, stattlicher junger Kerl, aber was er auf diesem Gebiet mit Nicoletta erlebte, sprengte seine Vorstellungskraft des Öfteren. Er war ihr hörig geworden und in seiner kleinen Wunschwelt waren die 25000 Mark, die er in der Tasche bei sich trug, der Schlüssel für eine gemeinsame Zukunft. Die wollte er sich jetzt von niemandem kaputtmachen lassen, schließlich hatte er dafür gemordet. Natürlich würde das Verschwinden von Baumel zu Nachforschungen führen, aber wer konnte ihn, Nicoletta und Dr. Heb damit ernsthaft in Verbindung bringen? Wenn sie jetzt die Leiche und alle Spuren sorgfältig beseitigten, und daran hatte er bei dem Gedanken an Nicolettas Intelligenz keinen Zweifel, war es das perfekte Verbrechen. Er würde nie etwas gestehen, was Nicoletta belasten konnte und er selbst war es, der Baumel die tödlichen Schläge verpasst hatte. Blieb höchstens noch der Doktor, obwohl er auch allen Grund zum Schweigen hatte. Dr. Heb war es schließlich, der den Jungen, seinem Förderer und Freund Baumel für dessen perverse Liebesstunden zugeführt hatte.
*
17.06.1994
Entgegen ihren Gepflogenheiten hörte die Frau während der Fahrt keine Musik. Sie versuchte , sich zu konzentrieren. Nicoletta Tschetschowa überdachte die vergangenen und durchdachte die folgenden Stunden, dabei wanderten ihre Augen ständig zwischen dem schwarzen Band der Straße und ihrem Rückspiegel hin und her. Uwe machte seine Sache gut. Er hielt einen akzeptablen Abstand, und immer wenn die Scheinwerfer eines weiteren Fahrzeugs hinter ihnen auftauchten, fuhr er so dicht auf, dass ein gefahrloses Einfädeln des herannahenden Wagens unmöglich wurde.
Das war alles nicht geplant gewesen. Der Idiot sollte doch nicht sterben, er sollte überhaupt nicht angefasst werden und jetzt fuhren sie seine Leiche spazieren. Die Angelegenheit war urplötzlich außer Kontrolle geraten. Diese ganze Scheiße war nur die Schuld von Baumel.
Nicoletta schaffte es sich so in Rage zu bringen, dass sie selbst glaubte, mehr Opfer als Täterin zu sein. Eigentlich war sie es, die Mitleid verdiente. Sie wollten dieses dicke Schwein nur ein bisschen melken. Sollte Baumel mit dem Kleinen doch machen, was er wollte, aber er hatte gefälligst dafür zu bezahlen. Nun lag er mit eingeschlagenem Schädel in seinem Auto und würde in zwei Stunden auf nie mehr Wiedersehen in einem See abgelegt sein.
Nicoletta hatte noch vom Haus des Doktors aus Ilia angerufen. Auf ihn konnte sie sich verlassen. Ihre gemeinsame Zeit bei der Securitate hatte sie auf ewig zusammengeschweißt. Ilia Popescu war ihr Leitoffizier gewesen. Gemeinsam hatten sie Aufträge ausgeführt, für die sie sich bis zum jüngsten Tage in Rumänien zu verantworten hätten, wenn es ihnen nicht gelungen wäre, in Deutschland unterzutauchen und sich eine neue Identität zuzulegen. Die Mehrzahl der früheren offiziellen Geheimdienstmitarbeiter, allen voran die Angehörigen der Abteilungen IIIb und IV des für seine Brutalität besonders gefürchteten Direktorats für Innere Sicherheit, hatten es nach Ceausescus Sturz vorgezogen, aus Angst vor Repressalien Rumänien zu verlassen und im westlichen Europa unterzutauchen. Ausgestattet
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