Missing Link
gezählt, was bedeutet, dass sie ihr Artefakt von den Weisen vor zwei Großen Jahren bekommen haben.«
Jack atmete jetzt schneller.
Samanthas Augen weiteten sich. »Das wären mehr als 30 000 Jahre vor den Inkas und Mayas. 25 000 Jahre vor den Ägyptern und Sumerern. Jack, wenn das stimmt, dann wäre Tiahuanaco...«
»... die Wiege der Menschheit«, beendete Jack den Satz.
Tiahuanaco
Das Stahltor an der Vorderseite der Fähre hob sich, und die röhrenden Lastwagen bekamen wieder festen Boden unter die Räder. In der zerklüfteten, kahlen Landschaft waren keine Straßen zu erkennen. Vom ersten Transporter aus zeigte Jack, der vor Ricardo, Dorn und Samantha saß, dorthin, wo zwei dünne Linien auf dem Boden in der Dunkelheit verschwanden.
»Wir folgen diesen Reifenspuren«, sagte er. »Der Tempel steht östlich von hier.«
Sie würden mit der Sonne um die Wette fahren. Der weiche blaue Schimmer des Morgengrauens kroch bereits hinter dem zackigen Ausschnitt der Anden hervor. Nur holpernd und keuchend, durch das Steinlabyrinth in ihrem Tempo behindert, kamen die Wagen voran.
Jack legte seine Berechnungen Ricardo dar, der mit der Planung für den Bau des künstlichen Sonnentors begann. Die Wissenschaftler wollten Zeltstangen- und Leinwand verwenden, um eine einigermaßen annehmbare Version des Tors zu erhalten, die sie anschließend an die ursprüngliche Position tragen und dort genau ausrichten wollten. Doch sie müssten sich mit ihrer Arbeit beeilen.
Nach zehn Minuten kroch der Konvoi den leicht ansteigenden Pfad hinauf. Jack deutete in dem schwachen Licht auf eine Reihe riesiger Furchen im Boden. »Wir kommen immer näher. Das dort sind die ehemaligen landwirtschaftlichen Parzellen von Tiahuanaco.«
Erst vor kurzem hatten Wissenschaftler den Sinn hinter dem Grabensystem entdeckt, von dem Tiahuanaco umgeben war.
Die Minigräben hatten ursprünglich Wasser geführt, das, indem es ein künstliches Mikroklima mit konstanter Temperatur erzeugte, das Getreide vor der vernichtenden Kälte des Hochlands geschützt hatte. Die seit langem in Vergessenheit geratene Methode war für die örtlichen Indianer mit Aufsehen erregenden Erfolgen - die Getreideproduktion erhöhte sich um das Sechsfache - wieder eingeführt worden.
Nach einer weiteren Meile bat Jack den Fahrer, anzuhalten. Vor ihnen erhob sich milchiger Nebel, der eine Traumlandschaft aus perlendem Schaum bildete und sich über einzelne graue Felsen ergoss. Feuchte Nebelfinger kitzelten den Boden und wellten sich in den Spalten und Rinnen. Die Motoren wurden ausgeschaltet. Es herrschte absolute Stille.
Die Gruppe wurde von einem Gefühl der Isolierung ergriffen. Sie waren in eine andere Welt aufgestiegen. Eine Welt über den Wolken. Jack öffnete eine Sauerstoffflasche und hantierte an den Plastikschläuchen. Mit vorgehaltenem Mundstück atmete er tief ein. Das wertvolle Gas weckte seine Lebensgeister wieder, ließ ihn klarer, konzentrierter denken. Synchron mit den Wolken in seinem Kopf verzog sich auch der Nebel vom Hügel.
Jack stieg aus dem Transporter aus. »Das ist es.«
Samantha stellte sich neben ihn. »Bist du sicher?«
Wie als Antwort tauchte fünfzig Meter hangaufwärts eine Steinmauer mit glatter Oberfläche aus dem Nebel auf. Die Wand machte an einer Seite einen Knick, der obere Teil war immer noch verhüllt.
»Das ist die Akapana-Pyramide«, erklärte Jack. Er kramte in seiner Tasche und holte eine Taschenlampe heraus.
Auch Dorn verließ den Wagen. Unter seinen Stiefeln knirschte das Geröll. »Es ist so ruhig hier.«
»Heilig«, erwiderte Jack. »Viele Bolivianer weigern sich, in ihre Nähe zu kommen.«
»Hat Tiahuanaco eine religiöse Bedeutung für die Aymara?«, fragte Samantha.
»Indirekt. Doch die Aymara hatten mit dem Bau nichts zu tun. Den Ort hier gab es schon lange vor ihrer Zeit. Die ersten Spanier fragten die ansässigen Indianer, ob sie die Pyramide errichtet hätten, aber die lachten nur. Sie sagten, Tiahuanaco sei weder von den Aymara noch ihren Vorfahren, den Inka, erbaut worden .«
Jack ging den Hügel hinauf und verschwand im Nebel.
Samantha, Dorn und Ricardo folgten dem Geräusch von Jacks Schritten und holten ihn ein, als er, oben angekommen, an der Westseite der Pyramide eine Pause machte. Unter ihnen lag der Kalasasaya-Tempel, der in der Sprache der Aymara wörtlich übersetzt »der Tempel der aufrecht stehenden Steine« heißt.
»Ist das der Tempel, der die Tagundnachtgleiche misst?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher