Mission Arktis
Geschichte zu erzählen haben. Nachdem sie mit der Außenwelt Kontakt gehabt und die Geschichte ihrer Strapazen bekannt gemacht hatten, war ihnen allen leichter ums Herz und sie konnten sich etwas entspannen.
Aber was war jetzt los? Matt setzte sich wieder auf.
Jenny deutete durch die Windschutzscheibe – nicht auf die unter ihnen liegende Tundra, sondern auf den klaren Himmel.
Matt beugte sich vor. Zuerst sah er nichts Außergewöhnliches. Das Sternbild des Orion funkelte hell. Direkt vor ihnen glitzerte der Polarstern. Dann erspähte er die schimmernden Streifen und Bänder, die vom Horizont aufstiegen – ein Flackern in Grün-, Rot- und Blautönen. Die Aurora borealis ging auf.
»Nach der Vorhersage kriegen wir heute Nacht ein hübsches Schauspiel zu sehen«, sagte Jenny.
Matt lehnte sich zurück und sah zu, wie sich die farbenprächtigen Fächer und tanzenden Flammen über den Nachthimmel ausbreiteten. Für dieses Naturspektakel gab es viele Namen: Aurora borealis, Nordlicht … Unter den eingeborenen AthapascaIndianern wurde es koyukon oder yoyakbyh genannt, während die Inuit es einfach Geisterlicht nannten.
Vor seinen Augen floss die Farbwelle über den Himmelsbogen hinweg, schimmerte in einer leuchtenden Corona und breitete sich in Wolken von Azur und tiefem Karminrot aus.
»Eine Weile werden wir niemanden mehr erreichen können«, sagte Jenny.
Matt nickte. Das hinreißende Schauspiel, das entstand, wenn Sonnenwinde auf die obere Atmosphäre der Erde trafen, brachte fast jede Kommunikation zum Erliegen. Aber sie hatten es nicht mehr weit, höchstens noch eine halbe Stunde. Schon jetzt wurde der nördliche Horizont langsam hell, angestrahlt von den Lichtern der Ölfelder und des fernen Prudhoe Bay.
Schweigend flogen sie ein paar Minuten weiter und genossen stumm die Lightshow am Himmel, untermalt von Banes Schnarchen. In diesen wenigen Augenblicken fühlten sie sich wie zu Hause. Vielleicht waren es einfach die Nachwirkungen eines anstrengenden Tages, ein vom Endorphin hervorgerufenes entspanntes, zufriedenes Gefühl. Er hatte Angst, es mit Worten zu zerstören.
Schließlich brach Jenny das Schweigen. »Matt …« Ihre Stimme klang sanft.
»Nicht«, sagte er. Drei Jahre und der heutige Kampf auf Leben und Tod waren notwendig gewesen, um sie in einen Raum zusammenzubringen. Diesen kleinen Anfang wollte er auf keinen Fall gefährden.
Jenny seufzte. Ihm entging ihre Verzweiflung nicht.
Ihre Finger umfassten das Steuer fester, ihre Lederhandschuhe quietschten auf dem Vinylüberzug. »Schon gut«, flüsterte sie.
Der friedliche Moment war vorüber – auch ohne dass sie geredet hatten. Plötzlich erhob sich zwischen ihnen eine unsichtbare Mauer. Der Rest der Reise fand in absolutem Schweigen statt, angespannt und bitter.
Jetzt kamen die ersten Derrickkräne in Sicht, mit Lichtern geschmückt wie Weihnachtsbäume. Links durchschnitt eine zackige silberne Linie die makellose Tundra, hob und senkte sich über die Landschaft wie eine gigantische Metallschlange – die TransAlaskaPipeline. Sie zog sich von Prudhoe Bay an Alaskas Nordküste bis nach Valdez am Prince William Sound, ein Fluss aus schwarzem Gold.
Sie kamen ihrem Ziel immer näher. Die Pipeline führte sie, und Jenny folgte ihr auf parallelem Kurs. Sie versuchte mit dem FlugplatzTower in Deadhorse Kontakt aufzunehmen. Ihr Stirnrunzeln war Antwort genug. Noch immer tanzten die Geisterlichter am Himmel.
Sie legte sich gemächlich in die Kurve. Vor ihnen glühte die Stadt Prudhoe Bay – wenn man die Ansiedlung eine Stadt nennen konnte – in der Nacht wie das Zauberland eines Ölmagnaten. Es war hauptsächlich ein Fabrikstandort, errichtet für Ölproduktion und Öltransport samt der dazugehörigen Dienstleistungsunternehmen. Die Einwohnerzahl lag im Durchschnitt unter hundert, aber die Wanderarbeiter sorgten für eine ständige Fluktuation, je nach Arbeitsmenge. Außerdem gab es hier auch einen kleinen Militärstützpunkt zum Schutz dieses Zentrums der NorthSlopeÖlproduktion.
Jenseits der Stadtgrenzen gelangte man bald an die Beaufort Sea und den Arktischen Ozean, aber es war schwer zu sagen, wo das Land endete und das Meer begann. Von der Küste erstreckten sich riesige Eisplatten meilenweit in den Ozean hinaus und gingen irgendwann ins Packeis der Polarkappe über. Im Sommer schrumpfte die Kappe auf die Hälfte zusammen und zog sich von der Küste zurück, aber jetzt bestand die Welt aus massivem Eis.
Jenny flog hinaus in Richtung Meer, umkreiste Prudhoe
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