Mission auf Leben und Tod
Land der Ma’dan, der »Sumpfaraber«, die über Jahrhunderte hinweg entflohenen Sklaven, Beduinen und Sträflingen Zuflucht gewährt hatten. Dieses historische Marschland war nur mit Booten zugänglich, zur Kriegführung waren die trügerischen Sümpfe noch nie geeignet gewesen, für Saddam Hussein allerdings hatten sie vor allem wegen der Deserteure ein so großes Ärgernis dargestellt, dass er Hunderte von Quadratkilometern, das gesamte Gebiet bis hinunter zum Zusammenfluss von Euphrat und Tigris, trockenlegen ließ. Flüsse wurden entwässert, zwei große Kanäle errichtet und damit ein ganzes Ökosystem zerstört; aus den einstigen Sümpfen war eine teilweise verschlickte Trockenebene ohne Flora und Fauna geworden. Und die Sumpfaraber waren gezwungen, ihr Land zu verlassen; manche gingen nach Norden, andere nach Osten. Später wurden breite Straßen angelegt, damit Saddams schwere Panzerfahrzeuge zu ihren Angriffen an die iranische Grenze rollen konnten.
Seit dem Sturz des Diktators bemühten sich Amerikaner und Briten, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen; das Wasser durfte wieder fließen, und die Sumpfaraber kehrten zurück. Mittlerweile sah das Feuchtgebiet fast wieder aus wie in biblischen Zeiten. Die Grenze allerdings war die gleiche geblieben, und die iranischen Soldaten hielten an, als sechs GPS-Empfänger piepsend eine Warnung ausstießen.
Sie stiegen aus und observierten die Gegend mit russischen Nachtsichtgeräten. Sie wussten, dass das Gelände unmöglich zu überwachen war; die Spannungen, die zwischen den beiden Ländern herrschten, waren ständig präsent.
Auf der iranischen Seite der Grenze stand ein niedriger Betonbunker mit einem Ausguck. An dessen Nordseite schloss sich ein langer, unterirdisch gelegener Lagerraum an, der vom Boden aus kaum zu bemerken war. Hier luden die Iraner mithilfe der Winde auf der Ladefläche 25 der Kisten ab, die über eine Rutsche in den gut versteckten Keller gebracht wurden.
Es war 3.30 Uhr auf der Uhr des iranischen Befehlshabers, als die letzte Kiste verstaut war. Jetzt kam ein klappriger Eselskarren langsam den Weg entlang. Die beiden jungen Araber, die darauf saßen, Yousef und Rudi, waren Bachtiaren, Nomaden von den Ausläufern des Zagrosgebirges, deren traditionelle Lebensweise allerdings gefährdet war, nachdem die iranischen Regierungen wiederholt versucht hatten, sie zur Sesshaftigkeit zu bewegen.
Der Karren war mit Weizenballen beladen. Die Soldaten rissen sie herunter, wuchteten die beiden Kisten hinauf und deckten sie mit den Weizenballen ab. Gemächlich setzten die Esel ihren Weg nach Westen fort, wo sie bereits nach hundert Metern die Grenze überschritten. Sie waren nur noch fünf Kilometer vom breiten Tigris entfernt, den sie noch vor der Morgendämmerung erreichen mussten.
Yousefs Anfeuerungsrufe und seine scharfen Peitschenschläge trieben die Esel zur winzigen Anlegestelle, wo irakische Fischer ihre Daus festgemacht hatten. Um 4.15 Uhr trafen sie dort ein. Die beiden Kisten wurden abgeladen und auf zwei flachen Flusskähnen verstaut. Die beiden Iraner machten sich auf den Rückweg. Das Klappern der Eselshufe auf dem harten Sand war alles, was von ihnen noch zu hören war, als sie in der Nacht verschwanden.
Auf dem gegenüberliegenden Tigrisufer wurden die Kisten auf einen weiteren Eselskarren verladen und erneut mit Weizenballen zugedeckt. Diesmal war die Reise noch kürzer, es ging lediglich zum ersten kleinen Wasserlauf, der von den Sumpfarabern befahren werden konnte. Dort, am schlüpfrigen, binsenbewachsenen Ufer, brachten acht Männer, vier von ihnen Terroristenführer, die Kisten an Bord zweier langer, schlanker Stakboote. Diese legendären Maschufs der Sumpfaraber waren wahrscheinlich die einzigen Boote, mit denen die lang gestreckten Lagunen und seichten Seen problemlos durchquert werden konnten, nicht umsonst hatte sich an ihrer Konstruktion seit 6000 Jahren nichts geändert.
Da die anderthalb Meter breiten Kisten nicht flach auf den Boden der schmalen Boote passten, mussten sie diagonal zwischen den Dollborden befestigt werden. Nachdem sie sicher verschnürt waren, lösten die Männer die Leinen und begannen ihre lange Fahrt nach Norden über die versteckt liegenden Gewässer und zugewucherten Sümpfe, geleitet einzig und allein vom hellen Licht des Polarsterns.
Selbst mit einem modernen GPS wäre es unmöglich gewesen, in diesen Gewässern zu navigieren. Lange Kanäle waren plötzlich nur noch zehn Zentimeter tief,
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