Mission Clockwork: Angriff aus der Tiefe
einen Spaltbreit offen und seltsamerweise lag direkt hinter der Tür ein Fedora, ein Filzhut, auf dem Boden. Seine Hand glitt zu der winzigen Pistole in seiner Brusttasche. Als er näher kam, fiel ihm ein roter verschmierter Fleck auf dem Hut auf. Er umklammerte fest die Pistole und spähte durch den Spalt. Der Vorhang war fast vollständig zugezogen, sodass der Großteil des Raums im Dunkeln lag.
Wyle wollte die Tür weiter aufstoßen. Zu seinem Missbehagen quietschten die Scharniere aufdringlich. Und irgendetwas blockierte auf der anderen Seite. Wyle hielt die Pistole vor der Brust und warf einen blitzschnellen Blick hinter die Tür.
Auf dem Boden sah er den Körper eines hünenhaften Mannes. Sein muskulöser Hals war in einem spitzen Winkel abgeknickt. Neben ihm lag ein Messer. Ein Tisch und ein Stuhl waren umgeworfen worden. Und auch die Papiere, die überall im Raum verstreut lagen, deuteten darauf hin, dass der Mann nicht kampflos gestorben war.
Wyle bewahrte Ruhe. So etwas sah er nicht zum ersten Mal. Er atmete langsam und lauschte auf ein verräterisches Geräusch des Täters.
Nichts.
Es gelang ihm schließlich, die Tür so weit zu öffnen, dass er sich hindurchquetschen konnte. Ein Blatt schwebte durch die Luft – ein befremdlicher Anblick, denn die Fenster waren geschlossen und folglich gab es auch keinen Luftzug. Auf den Regalen zu beiden Seiten des Raums standen nur wenige Bücher. Der Tisch, der dem Fenster am nächsten stand, war wie der Boden mit Dokumenten übersät. Erneut lauschte Wyle angestrengt. Nichts. Er bückte sich und befühlte den Hals des Mannes. Er war noch warm. Kein Puls. Sein rechtes Handgelenk zierte eine tätowierte fleur-de-lys, eine stilisierte Lilie: Der Mann hatte der französischen Marine angehört.
Als Wyle zum Tisch hinüberging, hob er einige Papiere vom Boden auf. Wie er beim Durchblättern feststellte, handelte es sich um französische Dokumente, die er mühelos lesen konnte. Höchstwahrscheinlich steckte ein anderer Agent hinter dem Mord. Stand er im Dienst der Russen? Der Deutschen? Oder der Clockwork Guild? Mit dieser Organisation hatte Wyle noch nicht zu tun gehabt, aber der Name war mehrmals in Mr Socrates’ Nachrichten aufgetaucht. Er wusste nur wenig über die Gilde, lediglich dass er Ausschau nach Symbolen halten sollte, die an ein Uhrwerk oder Ziffernblatt erinnerten. Das waren wieder einmal typisch vage Anweisungen von oben.
Unter den Dokumenten befand sich eine Seekarte des Atlantiks, auf der mit roter Tinte Markierungen vor der Küste Islands eingezeichnet waren. Das Wort Ictíneo war auf den oberen Kartenrand gekritzelt.
Dann kam ihm ein Blatt unter die Finger, auf dem Folgendes stand:
VSVYWBT KEUW 6035236
Ganz offensichtlich ein Code, doch er hatte jetzt nicht die Zeit, ihn zu entschlüsseln.
In der Ecke beim Fenster erklang ein Husten. Wyle fuhr herum, die Pistole im Anschlag. Es war das gleiche bellende Husten, das er seit einigen Tagen immer wieder hörte.
Meine Fantasie scheint im Alter wohl mit mir durchzugehen, sagte er sich. Hastig raffte er die Unterlagen zusammen, stopfte sie in seinen Tornister und verließ den Raum.
Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung vergewisserte Wyle sich mehrmals, dass niemand ihm folgte. Er betrat das Gebäude und stieg die Treppe hinauf. Sein linkes Knie schmerzte. Er öffnete die Tür, hängte seinen Mantel an die Garderobe und setzte sich an den Tisch, um die kodierte Zeile zu entschlüsseln. Wahrscheinlich hatte man sich der Vigenère-Verschlüsselung bedient – das war die bevorzugte Methode der Franzosen für Geheimnachrichten. Allerdings wussten sie nicht, dass die Briten schon vor Jahren das System geknackt hatten. Als Wyle bereits einige Minuten über der Nachricht grübelte, fiel ihm plötzlich auf, dass er die Tür nicht geschlossen hatte.
»Du wirst langsam alt«, sagte er zu sich selbst und stand auf, um sie zu schließen.
Dann kehrte er zu den Zahlen und Buchstaben zurück.
Grand poisson 6035236
Grand poisson bedeutete »großer Fisch«. Aber wofür standen die Zahlen? Schlagartig sah er die Lösung vor Augen.
Doch in demselben Moment legten sich zwei Hände fest um seine Kehle und eine männliche Stimme sagte: »Ah, das ist die Information, die ich entschlüsseln wollte.« Ein Anflug von einem englischen Akzent schwang mit. Wyle warf sich zurück, doch er wurde zu Boden geschleudert. Sein Gesicht prallte so heftig auf, dass er spürte, wie seine Nase brach. Es gelang ihm nicht, auch
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