Mission Clockwork, Band 3: Mission Clockwork, Duell in der Ruinenstadt
alle in ihre Hütten zurückgezogen, und das war King nur recht.
»Das Gottesgesicht?«, fragte der alte Mann, in dessen rauer, müder Stimme noch immer ein melodischer schottischer Akzent mitschwang. »Es befindet sich in Australien, das hat mir mein alter Freund Bailey erzählt, ein paar Jahre, bevor er an Fieber gestorben ist. Er hat von den Eingeborenen dort gehört, dass tief verborgen im Regenwald ein großer Tempel liegt, angefüllt mit sagenhaften Kostbarkeiten. Übertreibungen, immer Übertreibungen! Das treibt uns Abenteurer an, mein Freund!«
»Jaja. Warum ist Ihr Freund diesen Gerüchten nicht auf den Grund gegangen?«
»Bailey war Botaniker. Wäre es um eine unbekannte Pflanze gegangen, hätte er sich mit einer Machete durch den Urwald gekämpft. Aber Gold? Schädel mit einem Gottesgesicht? Dergleichen hatte für ihn keinerlei Bedeutung.«
King nippte an seinem Wein. »Hin und wieder steckt ein wahrer Kern in den Gerüchten.«
»Ja, sicher. Und diese Legende ist gut. Ich war beeindruckt, wie viele Einzelheiten der dortige Stamm schildern konnte. Sie erzählen von einem herabstürzenden Himmel und großen Geistern, die sich erheben, und dass das Gottesgesicht jeden, der es erblickt, in den Wahnsinn treiben würde.«
»Und wann wurde dieser ›Schatz‹ das letzte Mal gesehen?«, fragte King.
Der alte Entdecker trank einen Schluck Tee. »Ach, diese Stämme sprechen oft in Rätseln. Vielleicht letztes Jahr, vielleicht vor tausend Jahren? Die Beschreibung des Tempels legt jedenfalls nahe, dass es sich um eine alte, längst vergessene Zivilisation handeln muss. Und das wiederum ist merkwürdig: Schließlich gab es vor der Ankunft von uns Briten in Australien keine Zivilisation.«
»Welcher Stamm war das doch gleich?«
»Das Regenvolk, so nannte sie Bailey. Wie sie sich selbst nennen, kann ich nicht sagen.«
King füllte seinen Kelch ein weiteres Mal mit französischem Rotwein. Er hatte die Flasche in seinem persönlichen Gepäck mitgebracht. Einen zwanzigjährigen Wein. Einen erlesenen Jahrgang. Einen Wein, von dem er glaubte, ein Mann würde ihn gern am letzten Tag seines Lebens trinken – wenn er nicht ausgerechnet Abstinenzler wäre.
»Wem haben Sie sonst noch davon erzählt?«, erkundigte er sich.
Der alte Mann lachte. »Niemandem, Mr King, niemandem. Nur Ihnen, diesem Stimmler und sonst niemandem. Die Geschichte ist es nicht wert, dass man groß Gedanken darauf verschwendet. Ach, die Unberechenbarkeit dieser Legenden.« Er hob eine zitternde, blau geäderte Hand. »Die Unberechenbarkeit unseres Tuns.«
»Das treibt uns an«, sagte King sanft. »Und wo liegt nun dieser unberechenbare Ort?«
»Im Regenwald von Queensland. Bailey hat mir eine Karte gezeichnet. Ich benutze sie jetzt schon seit Jahren als Lesezeichen.«
King schenkte dem alten Mann Tee nach, und mit einer raschen Handbewegung ließ er ein Pulver in die Tasse rieseln.
»Jedenfalls ist es schön, Sie endlich kennenzulernen«, sagte er und reichte dem alten Abenteurer die Tasse. »Zum Wohl, Dr. Livingstone. Ich trinke auf all Ihre Heldentaten.«
Das Pulver war stark. King hatte es bei einem Schamanen gegen zwei Goldknöpfe getauscht. Er beobachtete, wie Livingstone seinen Tee schlürfte. Langsam schloss der Mann die Augen, und sein Kopf machte nickende Bewegungen, als würde er auf eine Frage antworten. Er murmelte etwas, wie »Gewässer« oder »Lianen« oder auch »Queen Victoria«, dann entschuldigte er sich und zog sich in sein Zelt zurück.
Am frühen Morgen war der alte Entdecker tot und King verschwunden – doch nicht ohne sich zuvor die Karte aus Dr. Livingstones Bibel geholt zu haben.
Während King durch den dampfenden Dschungel gen Osten zog, studierte er beim Mondschein die Karte. Sie brannte sich in sein Gedächtnis ein. Von Tag zu Tag trieb er seinen Führer und das Maultier zu größerer Eile an. Er musste einfach der Erste sein, der das Gottesgesicht fand. In sechs Monaten würde man ihn auf der Titelseite der Illustrated London News sehen. Das war jedes Opfer wert.
Nachdem King sich endlich zur Küste durchgekämpft hatte, benötigte er eine weitere Woche, um die Insel Nosy Boraha vor der Nordostküste von Madagaskar zu erreichen. Dort nahm er sich ein Hotelzimmer in einem Pfahlbau, dem Stürme heftig zugesetzt hatten. Die Insel war lange Zeit ein Stützpunkt von Piraten gewesen. Ihre Schiffe waren zwar schon vor Jahren von französischen und englischen Kriegsschiffen versenkt worden, doch die Nachfahren
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