Mission Munroe 03 - Die Geisel
Es war weder seine Körperhaltung noch sein Schritt. Das Verräterische war, subtil und schamlos zugleich, seine Miene, die ohne Zweifel Erkennen signalisierte.
Sein Bild brannte sich unauslöschlich in Munroes Gedächtnis ein: Körperbau, Gangart, das Verhältnis von Gliedmaßen zu Oberkörper, das alles skizzierte sie auf einer geistigen Leinwand. Sie suchte seine Augen, und jetzt sah er auch sie, sah, wie sie ihn musterte, wandte den Blick ab, während seine Körpersprache sich wandelte und ihr zusammen mit dem angedeuteten, hämischen Grinsen eine Botschaft übermittelte: Ich weiß, wer du bist, und ich habe gewonnen. Das Spiel ist aus.
Und damit, mit seinem Erkennen und seinem Spott, erwachten die Euphorie, die jeden Mord zur Befriedigung einer großen Gier werden ließ, und die Dämonen, die sie schon längst besiegt zu haben glaubte, zu neuem Leben. Die Welt um sie herum versank in Grau, nur das Ziel blieb in lebendige Farben getaucht. Die Stimmen sangen, ihr Herz schlug schnell im Takt des Krieges, alles in ihr drängte zur Jagd. Die Blutgier trieb sie bis zu jenem Punkt, von dem es kein Zurück mehr gab. Keuchend atmete sie gegen diesen Druck an, presste die Hände an die Schläfen und besiegte den fast übermächtigen Drang zu töten.
Logik gegen Verlangen.
Erst denken, dann handeln.
Die Dämonen hier und jetzt freizulassen, unter den wachsamen Augen der Überwachungskameras, hätte bedeutet, dass ihr Schicksal genauso besiegelt war wie seines. Der Klient ging an ihr vorbei, sah ihr dabei unverwandt in die Augen, immer noch breit grinsend, ließ sie alles wissen. Er kannte sie. Aus irgendeinem Grund kannte er sie.
Dann hatte sie Neeva erreicht und legte dem Mädchen, ohne den Kampf gegen das innere Verlangen einzustellen, schützend den Arm um die Hüfte. Neeva gab Munroe das Handy und zeigte mit weit aufgerissenen Augen darauf, als wollte sie sagen: Es hat geklingelt, während du weg warst.
Munroe nickte. Sie ließ Neeva los, nahm das Telefon und schleuderte es mit aller Kraft, die sich nach der Begegnung mit dem Klienten in ihr aufgestaut hatte, aufs Meer hinaus.
Munroe nahm Neeva den Rucksack ab und gab ihr Arbens Jackett. »Gut gemacht«, sagte sie. »Hier, zieh dir das über, dann fällst du nicht ganz so auf.«
Neeva rümpfte ein wenig die Nase. »Das bezweifle ich«, sagte sie, schlüpfte aber, während Munroe sich die Schuhe anzog, trotzdem hinein. Die Ärmel waren ihr viel zu lang. Jetzt sah sie zwar erst recht seltsam aus, aber andererseits sorgte das dunkelblaue Jackett dafür, dass ihr grellbuntes Kleid fast gar nicht mehr zu sehen war.
Der Mann auf der Mauer erhob sich, verharrte und setzte sich dann wieder. Er hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass die Ereignisse eine solche Wendung nehmen würden.
Arbens Handy klingelte.
Munroe beachtete es nicht und schob sich zwischen Neeva und die Ufermauer, damit sie den Klienten beobachten und sich an seiner Reaktion weiden konnte, wenn er sich umdrehte und feststellen musste, dass sein schöner Plan eine kleine Änderung erfahren hatte. Ihr Arm lag wieder um Neevas Hüfte, und sie machte sich bereit, trotz des Verkehrs die Straße zu überqueren, sobald der Zeitpunkt gekommen war.
Der Klient blieb stehen und drehte sich um. Ein kurzer Ausdruck der Verblüffung, dann wurde daraus pure Feindseligkeit. Munroe wartete auf eine Lücke im Verkehr. Lächelte selig, während die Stimmen und die Blutgier sie drängten, zu ihm zu gehen, ihn mit aller Macht anlocken wollten. Sie betete um eine Gelegenheit, eine Art Unfall vielleicht, damit die Kameras und die anderen Autofahrer keinen Verdacht schöpften und sie die Tore öffnen und ihr Verlangen endlich stillen konnte.
Doch der Klient rührte sich nicht von der Stelle. Wie auch? Dieser Ort mit den vielen Kameras, wo man von allen Seiten gesehen werden konnte, dieser Ort, der nur deswegen ausgesucht worden war, um die Behörden zu verspotten und die Operation des Puppenmachers zu erschweren, barg jetzt die Gefahr, ihn selbst zu entlarven. Mit starrem Blick und fest zusammengepressten Lippen stand er da, die Faust so fest um die Hundeleine geschlossen, dass das Weiß der Knöchel zu erkennen war.
Arbens Telefon klingelte erneut und erinnerte sie daran, dass Lumani immer noch irgendwo in der Nähe saß und wusste, dass etwas schiefgelaufen war. Aber er hatte noch nicht geschossen, warum auch immer.
Munroe sagte: »Wir müssen hier weg. Bleib dicht bei mir.«
Gemeinsam traten sie auf die
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