Mission Munroe 03 - Die Geisel
aber es spielte eigentlich keine Rolle mehr. Lumani starrte Munroe durch die Fensterscheibe direkt in die Augen, ein gehässiges Grinsen auf dem Gesicht. Die Bahn setzte sich in Bewegung. Lumani tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und grüßte sie mit einem ironischen Salut.
»War er das?«, fragte Neeva. »Das Milchgesicht?«
Munroe nickte.
Sie holte die Einzelteile von Arbens Handy aus der Jackentasche, setzte den Akku ein und schaltete es an.
»Machst du dir Sorgen?«
»Noch nicht«, flüsterte Munroe, und Neeva verstand. Sie sagte nichts mehr.
Als das Telefon endlich betriebsbereit war, wartete eine neue Nachricht auf sie. Wieder ein Foto von Alexis. Sie lag nackt, mit verbundenen Augen und alle viere weit von sich gestreckt, auf einem Betonboden. Munroe biss die Zähne zusammen und löschte das Foto. Wenn sie sich jetzt mit irgendetwas anderem als der Gegenwart beschäftigte, würde sie Fehler machen, und Fehler bedeuteten Tod, und der wiederum bedeutete, dass unzählige andere junge Frauen dasselbe Schicksal erleiden mussten wie Neeva und Alexis. Sie würde nicht von ihrem Kurs abweichen.
Warm und unaufgefordert lag plötzlich Neevas Hand auf Munroes Arm.
Munroe verspannte sich.
Neeva zog die Hand zurück. »Tut mir leid«, sagte sie. »Hab ich vergessen.«
Munroe nickte und zwang sich zu einem schmerzlichen Lächeln, ging das Verzeichnis des Handys durch, nahm das Blatt Papier und den Stift, die sie aus dem Telefon-Shop mitgenommen hatte, und notierte sich Lumanis Nummer und die des Puppenmachers. Dann schob sie das Handy, ohne es auszuschalten, in die Jackentasche der Frau neben ihr.
Kapitel 32
Schweigend fuhren sie bis zum Bahnhof Cadorna, stiegen aus und gelangten auf die Piazza, sauber und bunt und mit zahlreichen Statuen verziert. Außerdem verkehrten hier viele Busse und Straßenbahnen. Zu ihrer Linken erhoben sich die massiven Mauern des Castello Sforzesco. Munroe ging in die entgegengesetzte Richtung, schlängelte sich durch die Fußgängerscharen, folgte Bradfords Richtungsangaben und ging mehrere Minuten lang eine Straße entlang, gesäumt von Bäumen mit immer noch grün leuchtenden, jungen Blättern.
Munroe überprüfte noch einmal die Adresse auf ihrem Zettel und betrat ein Eiscafé, dessen schlichte Modernität einen auffälligen Gegensatz zu dem beeindruckenden Säulenbau bildete, in dem es untergebracht war. Sie setzte Neeva an einen freien Platz und holte – in dem Versuch, so etwas wie Normalität zu demonstrieren, und weil sie spürte, wie sehr der Hunger an ihren eigenen Eingeweiden nagte – ihre letzten Euros aus der Tasche, um Neeva etwas zu essen zu bestellen. Da fing sie einen Blick des Mannes hinter dem Tresen auf.
Er wirkte auf den ersten Blick sehr jung, aber Munroe schätzte ihn auf Mitte dreißig, auffallend klein und drahtig, jedenfalls ganz anders als das Klischee, das man vielleicht im Kopf hatte, wenn man an einen Bekannten von Bradford dachte. Aber an seinem konzentrierten Blick, der ununterbrochen auf ihr ruhte, merkte Munroe, dass er sie und vielleicht auch Neeva schon erkannt hatte, als sie zur Tür hereingekommen waren.
Ohne den Blickkontakt mit ihrem neuesten Verehrer zu unterbrechen, gab sie Neeva das Geld. »Falls du Hunger hast«, sagte sie. »Aber geh auf keinen Fall weg. Und wenn du das Milchgesicht siehst oder dir sonst irgendjemand bekannt vorkommt, gilt die gleiche Anweisung wie beim letzten Mal.«
Neeva nickte, und Munroe ging zur Kasse. Der Mann mit der Schürze bedeutete einem der Angestellten, dass er seinen Platz einnehmen sollte. Er trat einen Schritt zurück, unauffällig, nicht wahrnehmbar für den oberflächlichen Betrachter und schon gar nicht für Neeva, die mit dem Geld in der Hand bereits zu den gekühlten Glasvitrinen unterwegs war. Aber für Munroe war klar, dass sie soeben eine Einladung erhalten hatte.
Er ging durch eine Schwingtür nicht weit von der Kasse entfernt. Munroe folgte ihm. Er drehte sich nur einmal kurz um, um nach ihr zu sehen, dann ging er durch einen engen, L -förmigen Flur, an einem Kühlraum und einer kleinen Küche vorbei bis zu einer weiteren Tür, die einen entscheidenden Unterschied zu allen anderen Türen in diesem Eiscafé aufwies. Sie besaß eine Tastatur und einen biometrischen Scanner.
Er legte den Daumen auf ein Feld, und das Türschloss klickte.
Der Raum war ungefähr so groß wie ein begehbarer Kleiderschrank, mit nackten Wänden und einem leeren Schreibtisch. Die Tür fiel hinter
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