Mission Munroe 03 - Die Geisel
übergab sie sie einem der älteren Mädchen. Anschließend gab sie jedem Mädchen knapp tausend Euro und führte sie nach draußen. Dann standen sie auf der Schwelle und blinzelten in die ersten Sonnenstrahlen. Es war ein makaberer Anblick, gefolgt von einem Abschied ohne Worte.
Munroe wartete, bis die Mädchen einen halben Häuserblock weit gegangen waren, dann schloss sie die Tür. Sie hätte gerne noch länger an ihrem Schicksal teilgehabt, aber das war nicht möglich. Sie würden ihren eigenen Weg finden müssen, würden hoffentlich der Polizei in die Arme laufen, jemanden finden, der ihre Sprache sprach, jemanden, dem sie erzählen konnten, was passiert war, und schließlich Menschen, die der Wahrheit auf die Spur kommen wollten, um sie an diesen Ort des Bösen zu führen. Sie selbst würde, unabhängig davon, einen Korrespondenten einer internationalen Nachrichtenagentur ausfindig machen und ihm genügend Informationen zuspielen, sodass, wer die Wahrheit entdecken wollte, sie auch entdecken konnte.
Langsam, behutsam, näherte Munroe sich der Stelle, an der Neeva lag.
Stellte sich vor sie.
Kniete nieder.
Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht, das keine Spuren des Gemetzels trug, war friedlich. Munroe meinte, in dieser Ruhe ein leises Lächeln zu entdecken. Selbst ohne Haare sah Neeva im Tod genauso aus wie die Puppe, zu der dieser Wahnsinn sie hatte machen wollen. Immer und immer wieder gingen ihr Neevas beinahe letzte Worte durch den Kopf, bis sie sie, um sich davon zu befreien, flüsternd aussprach: Ich habe mir noch nie etwas so sehr gewünscht. Ich will endlich einmal jemandem, der mir etwas angetan hat, auch etwas antun.
Munroe kniete auf dem harten Boden und beugte sich nach vorn, um Neeva aus den Armen des Puppenmachers zu befreien. Doch dann hielt sie inne. Es kam ihr zwar vor wie ein Sakrileg, sie in dieser Farce zurückzulassen, aber sie musste es tun. Ohne sonst etwas zu verändern, beugte sie sich noch ein kleines bisschen weiter vor und drückte ihre Lippen auf Neevas Stirn.
Ich hab’s durch meiner Hände Kraft ausgerichtet.
»Vielleicht findest du Frieden im Tod«, flüsterte sie und stand auf.
Drehte dann allem den Rücken zu und ging nach vorn, zur Tür, die in das Juweliergeschäft führte. Dabei wählte sie Bradfords Nummer.
Kapitel 44
Dallas, Texas
Munroe trat vom Teppichboden der Fluggastbrücke auf den Teppichboden des Flughafengebäudes. Ihr Gepäck bestand nur aus dem Stoffbeutel mit einigen wenigen Dingen, die sie sich in der Woche seit Neevas Tod besorgt hatte.
Seit zwei Tagen war sie in den Vereinigten Staaten, und jetzt kehrte sie nach Dallas zurück. Mehr Heimat hatte sie nirgendwo auf der Welt. Vor etlichen Stunden hatte sie Bradford eine SMS mit ihrer Ankunftszeit aus Denver geschickt. Seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört, aber sie wusste, dass er jenseits der Drehtür auf sie warten würde.
Nachdem sie Neeva verlassen und mit Bradford telefoniert hatte, um ihm zu sagen, dass sie am Leben war und sich auf den Weg nach Hause machen würde, hatte sie zuerst das Reuters-Büro in Zagreb und zwanzig Minuten später auch die US -Botschaft angerufen.
Die Nachricht von den blutigen Ereignissen verbreitete sich schnell, und es dauerte nicht lange, bis die ersten Bilder auf den Fernsehschirmen überall auf der Welt zu sehen waren. Niemand wusste etwas Genaues, weshalb alle möglichen Spekulationen die Runde machten, und angesichts der grausamen Bilder von Neevas Entdeckung würde es etliche Wochen dauern, bis die Aufregung sich wieder gelegt hatte.
Nach dem Tod des Puppenmachers und vieler seiner Schergen, nach dem spurlosen Verschwinden seines wichtigsten Mannes und der Enttarnung seiner Geschäfte in den USA würde es eine Weile dauern, bis die Organisation wieder aktiv werden konnte – wenn überhaupt. Obwohl natürlich in einer Welt, in der Milliarden US -Dollar in den Krieg gegen Drogen gepumpt wurden und nur ein kümmerlicher Bruchteil zur Bekämpfung des unsichtbaren, wesentlich risikoärmeren und gewinnträchtigeren Menschenhandels aufgewendet wurde, in der Schleuser und Sklavenhalter praktisch ungefährdet wehrlose Frauen in gierige Schlunde werfen konnten, sehr schnell andere an deren Stelle treten würden. So wie immer.
Munroe war mit dem ersten Zug nach Ljubljana gefahren und hatte sich dort einer nervtötenden und zeitaufwendigen Prozedur unterzogen, die jedoch nötig war, um einen Reisepass als gestohlen zu melden und einen neuen zu bekommen
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