Mission Spyflight
Finnland nur selten etwas Aufregendes passierte.
Ihre Mutter wollte wissen, wo sie so lange geblieben war.
»Der Roller ist unterwegs stehen geblieben …«, fing Jenni an, aber dann klingelte ihr Telefon.
|164| Carita, die mit Jenni zusammen denselben Cello-Kurs im Musiklager besuchte, war dran. Sie wollte unbedingt wissen, was Jenni von ihrem Lehrer hielt, dem israelischen Meistercellisten mit den dunklen Locken, der nicht viel älter als fünfundzwanzig Jahre sein konnte.
Jenni ging in ihr Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Die Hauptnachricht im Videotext, die vom Verschwinden des »Prototyps einer Luftabwehrrakete« berichtete, leuchtete im Wohnzimmer weiter.
Der dunkle Kasten hörte auf, sich zu bewegen. Das Auto schien zu bremsen und Aaro drückte sich intuitiv an die warme Metallwand.
Bevor es nach dem Schließen der Türen dunkel geworden war, hatte Aaro bemerkt, dass man die Schnur, mit der er festgebunden war, mit einem Messer durchtrennen konnte. Oder mithilfe einer Flamme, aber ein Feuerzeug hatte er nicht.
Während der schwankenden Fahrt war die Angst von Übelkeit überlagert worden. Aaro wollte aus dem schwarzen Kasten raus, egal wohin, und wenn es vor die Füße der Entführer war. Hauptsache, er konnte auf festem Boden stehen, der nicht dauernd schwankte.
Für einen Moment war er in eine Art Halbschlaf gefallen, aber seiner Schätzung nach hatte der letzte Streckenabschnitt etwa eine knappe Stunde gedauert. Was hatte das zu bedeuten? Waren sie an der russischen Grenze angekommen? Aaro wusste nicht, wie weit sich neuerdings die Lkws vor der Grenze stauten. Mussten sie mehrere |165| Stunden oder sogar Tage warten? Was, wenn die Entführer in Kontakt mit den russischen Grenzbehörden standen und direkt durchgewinkt wurden? Aaro bereute es, seit dem Vortag nicht mit seinem Vater telefoniert zu haben. Er hatte ja nicht wissen können, wie viel an einem einzigen Tag passieren konnte!
Ihm war der kalte Schweiß ausgebrochen und er befürchtete, sich übergeben zu müssen. Mit vor Übelkeit verzogenem Gesicht richtete er sich mühsam in halb stehende Position auf. Er hatte die böse Ahnung, dass man den TI R-Lastwagen am Grenzübergang Vaalimaa nicht kontrollieren würde – falls sie überhaupt dorthin unterwegs waren.
In dem Moment wurde der Motor abgestellt. Draußen hörte man gedämpfte Stimmen.
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Major Sabalin seufzte erleichtert auf, nahm sich einen neuen Teebeutel und goss heißes Wasser aus dem Zwölf-Volt-Kocher. Er rührte Himbeermarmelade und reichlich Honig in den Tee. Die Schlange vor dem Grenzübergang war nur zweihundert Meter lang, trotzdem konnte sich das Warten hinziehen. Eigentlich hätte er in diesem Moment in der Bar des Hotel Torni einen Drink nehmen sollen, dachte Sabalin und schmunzelte.
Sein Beruf steckte voller wilder Variablen. Innerhalb weniger Sekunden konnte sich die Lage unvorhersehbar verändern und das erforderte blitzschnelle Entscheidungen. Genau das mochte Sabalin bei seiner Arbeit am liebsten.
Er blickte an der Lkw-Schlange entlang. Die finnischen Zollbeamten wirkten an diesem Tag außergewöhnlich aktiv. Sogar der Vorgesetzte war im Freien unterwegs und telefonierte aufgeregt. Gerade kontrollierten drei Mann die Lieferwagen und Vans, die offensichtlich eigens auf einem Kontrollareal versammelt waren. Dank des TI R-Schildes fühlte sich der Major angenehm sicher.
|167| Ein Zöllner mit strenger Miene ging um seinen Scania herum und hielt sich länger als üblich bei der Hecktür mit der TI R-Plombe auf. Dann stieg er aufs Trittbrett am Führerhaus und fragte: »Alles in Ordnung? Die Kühlung der Ladung funktioniert?«
»Funktioniert gut«, antwortete Sabalin auf Englisch mit deutschem Akzent. »In Russland brauchen sie neuerdings auch anderes Grünfutter als immer nur Kohl.«
Der Zöllner grinste und sprang hinunter. Im selben Moment setzte sich die Lkw-Schlange in Bewegung. Der Major hielt vor dem Zollgebäude an und nahm die Zulassung des Fahrzeugs sowie seinen deutschen Pass aus dem Handschuhfach. Nach der Grenze musste er eine Erinnerung in seinem Handy einspeichern, damit er nicht vergaß, seine Mutter in Moskau anzurufen, dachte der Major. Sie hatte am nächsten Tag Geburtstag.
Im Autoradio kam das Dreiundzwanzig-Uhr-Zeitzeichen.
Jenni versuchte zu verstehen, was sie im Lehrbuch zur Musiktheorie las, während sie die neue Platte von Shakira hörte. Es würde noch mehr Spaß machen, ein Instrument zu lernen, wenn man
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