Mission Walhalla
der stets meinte, er habe es gut getroffen, wenngleich seine Stirn, die eingebeult war wie ein Filzhut, eine andere Geschichte vermuten ließ als die, die er mir erzählte:
«Am wichtigsten ist, dass wir leben, und das allein ist ein großes Glück, Herr Bernhard. Denn genau jetzt, in diesem Moment, findet ganz sicher irgendwo in Russland ein Unschuldiger durch den NKWD den Tod. Während wir hier miteinander plaudern, wird ein armer Russe an den Rand einer Grube geführt, und seine Gedanken gelten seiner Heimat und seiner Familie, ehe der Schuss fällt und eine Pistolenkugel das Letzte ist, das ihm durch den Kopf schießt. Also wen kümmert’s, dass die Arbeit hart und das Essen schlecht ist? Wir haben die Sonne und die Luft in unserer Lunge und diesen Moment der Kameradschaft, den uns keiner mehr nehmen kann, mein Freund. Und stell dir nur vor, wie viel mehr es dir und mir eines Tages bedeuten wird, dass wir, wenn wir wieder frei sind, einfach losgehen und eine Zeitung und ein paar Zigaretten kaufen können. Und andere werden uns darum beneiden, dass wir so gelassen mit der vermeintlichen Mühsal des Lebens umgehen. Weißt du, worüber ich richtig lachen muss? Dass ich mich früher mal in einem Restaurant beschwert habe. Ist das zu glauben? Dass ich etwas habe zurückgehen lassen, weil es nicht richtig zubereitet war. Oder einen Kellner getadelt habe, weil er warmes Bier serviert hat. Ich kann dir sagen, jetzt wäre ich froh, wenn ich dieses warme Bier hätte. Ich verstehe jetzt, dass Glück genau das ist: das warme Bier anzunehmen und dran zu denken, dass es eine Freude ist, dieses Bier zu haben und nicht den Geschmack von brackigem Wasser auf aufgeplatzten Lippen. Das ist der Sinn des Lebens, mein Freund. Zu wissen, dass du gut dran bist und niemanden hassen oder beneiden musst.»
Dennoch, einen Mann in K.-A. musste man einfach beneiden. Oder hassen. Unter den Blauen gab es einige Politkommissare,
politruks
, deren Aufgabe es war, aus den deutschen Faschisten überzeugte Antifaschisten zu machen. Dann und wann beorderten diese
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uns in die Messe, wo wir uns Reden über den westlichen Imperialismus anhören mussten, über die Übel des Kapitalismus und über Genosse Stalin, der alles daransetzte, der Welt einen weiteren Krieg zu ersparen. Natürlich sprachen die
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kein Deutsch, und da auch nicht jeder von uns Russisch sprach, wurde die Übersetzung meistens vom unbeliebtesten Deutschen im Lager besorgt: Wolfgang Gebhardt.
Es gab zwei antifaschistische Agenten in K.-A. Der eine hieß Kittel, der andere war Gebhardt, ein ehemaliger SS -Rottenführer. Er stammte aus Paderborn und hatte früher als Profifußballer für den SV 07 Neuhaus gespielt. Im Februar 1943 war er in Stalingrad in Gefangenschaft geraten, und nachdem er behauptet hatte, er sei zum Kommunismus konvertiert, wurde er bevorzugt behandelt. Er bekam eine eigene Unterkunft, bessere Kleidung, besseres Schuhwerk, besseres Essen, Zigaretten und Wodka – was vermutlich erklärt, wieso Gebhardt so unbeliebt war und irgendwann im Herbst 1945 ermordet wurde. Er wurde eines Morgens erstochen in seiner Hütte aufgefunden. Die Russen waren ziemlich aufgebracht deswegen, denn zum Bolschewismus Bekehrte waren trotz der materiellen Vergünstigungen, die mit dem Seitenwechsel einhergingen, rar gesät. Prompt kam ein NKWD -Major von der Oblast Stalingrad nach K.-A., um die Leiche zu inspizieren und sich anschließend mit dem ranghöchsten deutschen Offizier zu besprechen, was damit endete, dass sie sich gegenseitig anschrien. Kurz darauf wurde ich zu Oberst Mrugowski gerufen. Wir setzten uns auf sein Bett hinter einem Vorhang, der zu den wenigen kleinen Privilegien gehörte, die ihm als ranghöchstem Offizier gewährt wurden.
«Danke, dass Sie gekommen sind, Gunther», sagte er, «das mit Gebhardt wissen Sie bestimmt schon.»
«Ja. Ich hab die Domglocken läuten hören.»
«Ich fürchte, die Nachricht ist weniger gut, als alle glauben.»
«Hinterlässt er keine Zigaretten?»
«Ich hatte gerade Besuch von einem NKWD -Major, der sich die Lunge aus dem Hals gebrüllt hat. Er hat mich deswegen richtig zur Schnecke gemacht.»
«Ich hab noch keinen Blauen erlebt, der nicht gern rumbrüllt.»
«Er will, dass ich was unternehme. Wegen Gebhardt, meine ich.»
«Wie wär’s mit Beerdigen?» Ich seufzte. «Herr Oberst, hören Sie. Ich habe ihn nicht umgebracht, und ich weiß auch nicht, wer es getan hat. Aber wenn Sie mich fragen, sollte man dem
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