Mission Walhalla
rechten Augenhöhle des Toten. Die Brutalität der Tat war bemerkenswert, ebenso wie die grausame Zweckdienlichkeit des Hirschgeweihs. Ich hatte in meiner Zeit bei der Kripo schon so manchen grässlichen Tatort gesehen, aber kaum je einen, der von derartiger Raserei zeugte. Auf einmal hatte ich eine ganz neue Hochachtung vor Hirschen. Ich zählte sechzehn einzelne Stichwunden, darunter ein paar Abwehrverletzungen an den Unterarmen, und den Blutspritzern an der Wand nach zu schließen, war Gebhardt auf dem Bett ermordet worden. Ich versuchte, eine Hand des Toten anzuheben, und stellte fest, dass die Totenstarre längst eingesetzt hatte. Der Körper war erkaltet, und ich vermutete, dass Gebhardt irgendwann zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens sein wohlverdientes Ende gefunden hatte. Mir fiel sogar etwas Blut unter den Fingernägeln auf, und unter normalen Umständen hätte ich eine Probe davon genommen, aber ich hatte keinen Umschlag, um sie aufzubewahren, und erst recht kein Labor mit einem Mikroskop, wo sie hätte untersucht werden können. Stattdessen nahm ich den Ehering des Toten an mich, der so eng auf dem geschwollenen Finger saß, dass ich ihn nur mit Hilfe von Wasser und Seife abbekam. Bei jedem anderen wäre der Ring spielend leicht vom Finger gerutscht, aber Gebhardt erhielt bessere Rationen als wir anderen und war normalgewichtig. Ich wog den Ring in der offenen Hand. Er war aus Gold und würde sich zweifellos als nützlich erweisen, wenn ich mal einen Blauen bestechen musste. Ich versuchte, die Inschrift auf der Innenseite zu entziffern, aber sie war zu klein für meine geschwächten Augen. Ich konnte ihn jedoch nicht einfach in die Tasche stecken. Einerseits, weil meine Uniformhose voller Löcher war, andererseits, weil draußen ein
starschina
stand, der auf die Idee kommen könnte, mich zu durchsuchen. Also schluckte ich den Ring runter, wohl wissend, dass es bei meinem Stuhlgang, der dünn wie Gemüsebouillon war, ein Leichtes sein würde, ihn wiederzufinden.
Von draußen drang Mrugowskis Stimme in die Hütte, der zu den deutschen Gefangenen sprach. Jubel erklang, als er bestätigte, was sich schon herumgesprochen hatte: Gebhardt war tot. Auf den Jubel folgte ein kollektives Aufstöhnen, als er ihnen erzählte, wie der NKWD die Sache regeln wollte. Ich stand auf und trat ans Fenster, weil ich hoffte, dass sich eine aufrechte Seele als Schuldiger zu erkennen geben würde, aber niemand rührte sich. Enttäuscht genehmigte ich mir noch einen Schluck aus der Wodkaflasche und legte eine Hand auf den Ofen. Er war kalt, aber ich öffnete ihn trotzdem, nur für den Fall, dass der Mörder vorgehabt hatte, sein unterschriebenes Geständnis zu verbrennen. Aber da war nichts – bloß ein paar Seiten aus einer alten Ausgabe der
Prawda
und ein paar Holzscheite, alles bereit für den ersten Kälteeinbruch.
Ein schmaler Schrank, nicht tiefer als ein Schuhkarton, war in einer Ecke der Hütte an der Wand festgeschraubt. Darin entdeckte ich die SS -Uniform, die Gebhardt abgelegt hatte, als er die Seiten wechselte. Ein Antifaschist in SS -Uniform hätte ja auch keine gute Figur abgegeben. Seine neue russische
gimnasterka
hing über der Stuhllehne. Ich durchsuchte hastig die Taschen und fand ein paar Kopeken und ein weiteres Päckchen Zigaretten. Beides steckte ich ein.
Ich hatte keine Zeit zu vertrödeln, daher zog ich meine verschlissene Uniformjacke aus und probierte Gebhardts an. Früher hätte sie mir nicht gepasst, aber so dünn, wie ich geworden war, saß sie einigermaßen, und ich behielt sie an. Seine Stiefel waren mir bedauerlicherweise zu klein, aber dafür passten mir seine Socken wie angegossen, die ebenso wie die Jacke in einem deutlich besseren Zustand waren als meine. Ich steckte mir noch eine Zigarette an und suchte dann auf allen vieren den Boden ab, fand aber nur Staub und Splitter. Ich war noch immer mit Suchen beschäftigt, als die Tür aufflog und Oberst Mrugowski hereinkam.
«Hat sich einer gemeldet?»
«Nein. Deshalb kann ich mir auch nicht vorstellen, dass ein Deutscher der Täter ist. So ehrlos sind unsere Männer nicht. Ein Deutscher wäre vorgetreten. Zum Wohle der anderen.»
«Hitler hat’s nicht getan», bemerkte ich.
«Das war was anderes.»
Ich schob Gebhardts Zigaretten über den Tisch. «Bitte», sagte ich. «Rauchen Sie eines toten Mannes Zigaretten.»
«Danke. Das mach ich.» Er zündete sich eine an und schielte beklommen zu der Leiche hinüber. «Finden Sie nicht, wir
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