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Mission Walhalla

Mission Walhalla

Titel: Mission Walhalla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Lager geben, die schlimmer waren als die, die ich bereits kannte?
    Einige Zeit später – ich habe keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte, aber draußen war es noch hell – setzte ich mich auf. Ich fischte die Zigaretten aus meiner Jacke und zündete mir eine an, auch wenn Zigarette eigentlich zu viel gesagt wäre. Sie bestand aus einem Pappröllchen und nur etwa drei oder vier Zentimetern Tabak – die Russen nannten die Dinger
papirossi
. Diese Marke trug den Namen Belomorkanal, weil sie an den Kanal erinnern sollte, der das Weiße Meer mit der Ostsee verband. Der Abwehrdienst hielt den Belomorkanal für ein Debakel: Er war zu flach für die meisten Hochseeschiffe, und außerdem waren Zehntausende von Häftlingen für seinen Bau geopfert worden. Ich fragte mich, ob unser Kanal am Ende besser abschneiden würde.
    Ich rauchte die Zigarette auf und schnippte die Kippe auf das Stalinplakat, aber die Art, wie sie von der Nase des großen Führers abprallte, machte mich stutzig. Ich stand auf, um das Porträt genauer zu inspizieren. Als ich es von der Wand nahm, stellte ich erstaunt fest, dass dahinter eine kleine Nische verborgen lag, etwa so groß wie ein Buch. Darin lagen ein Notizheft und eine Rolle Geldscheine. Es war nicht gerade ein professioneller Wandtresor, aber hier im Lager keine schlechte Idee.
    Die Geldrolle bestand aus fast vierhundert Fünf-Goldrubel-Scheinen – etwa drei bis vier Monatslöhne für einen Blauen. Es war also kein Vermögen, es sei denn, man war ein
pleni
. Zweitausend Rubel plus ein goldener Ehering könnten vielleicht gerade ausreichen, um mir in einem NKWD -Gefängnis in Stalingrad ein paar Privilegien zu erkaufen. Ich sah mir die Rubel genauer an, nur um auf Nummer sicher zu gehen, und stellte erleichtert fest, dass sie sich so fettig anfühlten wie echtes russisches Geld. Ich hielt die Scheine sogar gegen das Licht, das durchs Fenster fiel, um das Wasserzeichen zu überprüfen, ehe ich sie zusammenfaltete und in die einzige Gesäßtasche meiner Uniformhose steckte, die keine Löcher hatte.
    Das Notizbuch hatte einen roten Einband und Seiten aus billigem russischem Papier, so dünn, als sei es platt gewalzt worden. Als ich sie durchblätterte, stieß ich zu meiner Überraschung auf einen Namen, unter dem einige Daten und Zahlen standen, aus denen ich schloss, dass der genannte
pleni
von Gebhardt bezahlt worden war. Das machte ihn zwar nicht zwangsläufig zum Mörder, aber es lieferte immerhin eine Erklärung, wieso die Blauen uns Kriegsgefangene so wirksam überwachen konnten.
    Ein Zahlungsdatum ließ mich stocken: Mittwoch, 15. August. Das war Mariä Himmelfahrt, und für einige katholische Deutsche, besonders für die aus dem Saarland und Bayern, war es ein wichtiger Feiertag. Aber fast jeder im Lager hatte dieses Datum als den Tag in Erinnerung, an dem der NKWD Georg Oberheuser, einen Unteroffizier aus Stuttgart, verhaftete. Aus Empörung darüber, dass der Feiertag wie ein normaler Arbeitstag behandelt wurde, hatte Oberheuser Stalin in unserer Baracke lauthals als «bösartigen, gottlosen Schweinehund» beschimpft. Er benutzte noch andere Beleidigungen und hatte zweifellos recht damit. Umso mehr erschütterte es uns, als Oberheuser abgeführt und nie wieder gesehen wurde. Es war offensichtlich, dass er von einem anderen Deutschen an die Blauen verraten worden sein musste, da es ja in unserer Baracke keine Russen gab.
    Der Name in Gebhardts Notizbuch war Konrad Metelmann – der junge Leutnant, den ich naiverweise unter meine Fittiche genommen hatte. Wie es aussah, hatte er auch unter anderen Fittichen Schutz gesucht.
    Ich dachte nach. Die Blauen hatten unsere ganze Baracke wiederholt zur Identitätsprüfung in die Kantine befohlen, wo jeder Namen, Rang und Erkennungsnummer nennen musste. Wir waren immer davon ausgegangen, dass diese Prozedur durchgeführt wurde, weil sie hofften, dass dabei einer von uns aufflog. Denn es stimmte zweifelsohne, dass sich viele SS -Offiziere aus Furcht, für Kriegsverbrechen drangekriegt zu werden, als jemand anderer ausgaben, der im Krieg getötet worden war. Gebhardt fungierte dabei als Übersetzer, und jeder von uns wurde einzeln befragt, was bedeutete, dass es niemand mitbekommen hätte, wenn man eine solche Gelegenheit genutzt hätte, um jemand beim NKWD anzuschwärzen. Es war uns nicht in den Sinn gekommen, dass Oberheuser auf diese Weise verraten wurde, weil es am Tag seiner Festnahme keine Identitätsüberprüfung gegeben hatte.

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