Mission Walhalla
Matratze aus Sackleinen, starrte die umgitterte Glühlampe über der Tür an und fragte mich, wie viel sie einem dafür aufbrummten, dass man einem Blauen die Mütze vom Kopf geschlagen hatte. In Anbetracht des Strafmaßes, das bei Pospelow angewendet worden war, kam ich zu dem Schluss, dass ich mich auf irgendwas zwischen sechs Monaten und fünfundzwanzig Jahren gefasst machen musste. Ich suchte meine Seele nach seiner Stärke und Zuversicht ab, aber es nützte nichts: Ständig kreisten meine Gedanken um etwas anderes, das er gesagt hatte. Um einen Witz, den er gemacht hatte, den ich aber mit jedem Tag, der verging, weniger als Witz, sondern mehr als Prophezeiung verstand:
«Die ersten zehn Jahre sind immer die schlimmsten», hatte er gesagt.
Dieser Satz verfolgte mich.
Die meiste Zeit klammerte ich mich daran, dass es einen Prozess geben musste, ehe ich verurteilt wurde. Pospelow hatte gesagt, irgendeine Art von Prozess gäbe es immer. Aber als der Prozess dann begann, war er, ehe ich mich versah, auch schon wieder vorbei.
Sie kamen und holten mich, als ich beim Frühstück saß, und im nächsten Moment befand ich mich in einem großen Raum, wo man mir die Fingerabdrücke abnahm und ein kleiner bärtiger Mann mich mit einer großen kastenförmigen Messsucherkamera fotografierte. Oben auf dem polierten Holzkasten war eine kleine Wasserwaage – eine Luftblase in einer gelben Flüssigkeit, so wässrig wie die toten Augen des Fotografen. Ich stellte ihm etliche Fragen in meinem besten unterwürfigsten Russisch, aber das Einzige, was ich von ihm hörte, war: «Zur Seite drehen», und «Bitte still stehen». Das Bitte war nett.
Danach dachte ich, ich würde zurück in meine Zelle gebracht. Stattdessen bugsierte man mich eine Treppe hinauf und in einen kleinen Gerichtssaal. Ich sah eine sowjetische Fahne, ein Fenster, eine große Heldenwand mit dem Schreckenstrio Marx, Lenin und Stalin und auf einer erhöhten Plattform einen Tisch, hinter dem drei NKWD -Offiziere saßen. Ich kannte keinen von ihnen. Der ranghöchste, der in der Mitte dieser Troika saß, fragte mich, ob ich einen Übersetzer benötigte, eine Frage, die von einem Übersetzer übersetzt wurde, der gleichfalls NKWD -Offizier war. Ich verneinte, doch der Übersetzer blieb trotzdem und trug von da an holprige Übersetzungen von allem vor, was zu mir oder über mich gesagt wurde. Dazu gehörte auch die Anklageschrift, die von der Anklagevertretung, einer ganz passabel aussehenden Frau, die ebenfalls NKWD -Offizierin war, verlesen wurde. Sie war die erste Frau, die ich seit dem Marsch aus Königsberg sah, und ich musste sie immerzu anstarren.
«Bernhard Gunther», sagte sie mit zittriger Stimme – war sie nervös? War das ihr erster Fall? «Ihnen wird zur Last gelegt –»
«Moment mal», sagte ich auf Russisch. «Bekomme ich keinen Verteidiger?»
«Können Sie denn einen bezahlen?», fragte der Vorsitzende.
«Ich hatte etwas Geld, als ich das Lager in Krasno-Armeisk verließ», sagte ich. «Jetzt ist es verschwunden.»
«Wollen Sie andeuten, dass es hier gestohlen wurde?»
«Ja.»
Die drei Richter berieten sich einen Moment. Dann sagte der Vorsitzende: «Sie hätten früher Beschwerde einreichen sollen. Leider kann dieses Verfahren nicht verschoben werden, um Ihren Behauptungen nachzugehen. Wir fahren fort. Genossin Leutnant?»
Die Anklägerin verlas weiter die Anklage. «Dass Sie vorsätzlich und in böser Absicht einen Wachmann des Kriegsgefangenenlagers drei in Krasno-Armeisk tätlich angegriffen und damit gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen haben; dass Sie demselben Wachmann in Lager drei eine Zigarette gestohlen haben, was ebenfalls gegen das Kriegsvölkerrecht verstößt, und dass Sie diese Taten in der Absicht begingen, die anderen Gefangenen in Lager drei zu einer Rebellion aufzuwiegeln, was ebenfalls gegen das Kriegsvölkerrecht verstößt. Bei den vorgetragenen Straftaten handelt es sich um Verbrechen gegen Genosse Stalin und die Völker der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.»
Jetzt saß ich wirklich in der Patsche. Wenn es mir bis dahin nicht richtig klar gewesen war, so traf mich die Erkenntnis jetzt mit voller Wucht: Jemandem die Mütze vom Kopf schlagen war eines, Rebellion etwas ganz anderes. Rebellion war eine Anklage, die das Gericht nicht auf die leichte Schulter nehmen würde.
«Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen?», fragte der Vorsitzende.
Ich wartete höflich, bis der Übersetzer fertig war, und
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