Mission Walhalla
hinbringen?», fragte eine Stimme.
«Spielt das eine Rolle?», erwiderte jemand. «Die Hölle ist überall gleich, egal in welchem Höllenpfuhl du steckst.»
«Hier ist es zu kalt für die Hölle», sagte ein anderer.
Ich spähte durch ein Luftloch in der Wand, aber ich konnte den Stand der Sonne nicht ausmachen. Der Himmel spannte sich über den Waggon wie ein leeres graues Laken, das sich bald nachtschwarz färbte, mit Tupfen aus Schnee. In der hinteren Ecke des Waggons weinte ein Mann. Das Geräusch ging uns allen an die Nieren.
«Um Gottes willen, sag doch einer was zu dem Mann», murmelte ich.
«Was denn?», sagte der Mann neben mir.
«Weiß ich nicht, aber dieses Geräusch kann ich nicht die ganze Fahrt lang ertragen.»
«He, Fritz», rief eine Stimme. «Hör mit der Flennerei auf. Du versaust einem Knaben am anderen Waggonende die Stimmung. Das soll hier eine Vergnügungsfahrt sein, kein Trauerzug.»
«Denkste.» Da berlinerte jemand. «Kuck doch mal aus dem Luftloch hier. Da kannste schon den Friedhof sehen.»
Ich schob mich zu dem Berliner rüber und unterhielt mich mit ihm und fand heraus, dass jeder im Waggon wegen irgendwelcher erfundener Verbrechen von demselben Gericht schuldig gesprochen und zu vielen Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Anscheinend war ich der Einzige, der sich wirklich etwas hatte zuschulden kommen lassen.
Der Berliner hieß Walter Bingel und war vor dem Krieg Gärtner im Park von Sanssouci in Potsdam gewesen.
«Ich war in einem Lager bei der Zariza-Schlucht, nicht weit von Rostow», erklärte er. «War richtig traurig, dort wegzukommen. Die Kartoffeln, die ich gepflanzt hatte, waren nämlich fast erntereif. Aber ich hab ein paar Samen mitgenommen, also müssen wir vielleicht keinen Hunger schieben. Da, wo wir hinkommen.»
Es wurde viel spekuliert, wo das wohl sein mochte. Einer sagte, wir würden in ein Kohlebergwerkslager bei Workuta, nördlich des Polarkreises, gebracht. Ein anderer ließ den Namen Sachalin fallen, und alle verstummten, mich eingeschlossen.
«Was ist Sachalin?», fragte Bingel.
«Das ist ein Lager im äußersten Osten Russlands», erklärte ich.
«Ein Todeslager», sagte ein anderer. «Nach Stalingrad haben sie da massenweise SS hingeschickt. Sachalin bedeutet ‹schwarz› in einer dieser Untermenschensprachen, die sie da draußen sprechen. Ich bin mal einem begegnet, der behauptet hat, da gewesen zu sein. Ein russischer Häftling.»
«Keiner weiß, ob es wirklich existiert», schob ich nach.
«Und ob es existiert. Da wimmelt’s von Japsen, jawohl. Und es liegt so weit östlich, dass es nicht mal mehr mit dem Scheißfestland verbunden ist. In Sachalin brauchen sie gar keinen Stacheldrahtzaun. Wozu auch? Du kannst eh nirgends hin.»
Der Zug war fast drei Tage lang in Bewegung, und als endlich das Eis an den Schlössern weggebrochen wurde und sich die Waggontür öffnete, war die Erleichterung groß, denn die Gesichter der Wachen sahen europäisch und nicht asiatisch aus, was darauf hindeutete, dass wir von Sachalin verschont bleiben würden. Aber nicht alle waren verschont geblieben. Denn als wir aus dem Waggon sprangen, stellte sich heraus, dass sich einer der Männer an einem Holzpflock erhängt hatte. Es war der Mann, der geweint hatte.
Es waren Hunderte, die sich neben den Gleisen aufreihten und auf neue Befehle warteten. Wo auch immer wir jetzt waren, es war kalt, aber nicht annähernd so kalt wie in der Gegend von Stalingrad. Vielleicht lag es daran, dass kurz darauf ein Gerücht von Mann zu Mann gemurmelt wurde wie ein Mantra:
«Wir sind in Deutschland! Wir sind zu Hause!»
Anders als die meisten Gerüchte unter deutschen
plenis
war dieses zumindest ansatzweise richtig, denn anscheinend waren wir ganz kurz vor der Grenze des, wie viele meiner fanatischen Nazi-Kameraden es wahrscheinlich immer noch nannten, Deutschen Protektorats Böhmen und Mähren, auch bekannt als Tschechoslowakei.
Und die Begeisterung wuchs, als wir dann über die Grenze nach Sachsen marschierten.
«Die lassen uns laufen! Wieso hätten sie uns sonst den weiten Weg von Russland hierher bringen sollen?»
Ja, warum sonst? Aber es dauerte nicht lange, bis sich unsere Hoffnung auf Freiheit zerschlug.
Wir durchquerten ein Bergbaustädtchen namens Johanngeorgenstadt und marschierten dann einen Hang hinauf, von dem aus man einen schönen Ausblick auf die evangelische Kirche und etliche hohe Schornsteine hatte, und durch das Tor eines alten
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