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Mission Walhalla

Mission Walhalla

Titel: Mission Walhalla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Eines Tages nahm mich Iwan Jefremowitsch Pospelow beiseite.
    «Ich hab so was schon mal erlebt», sagte er. «Und ich fürchte, es wird böse ausgehen, wenn du nicht irgendwas dagegen unternimmst. Die Blauen haben dich für die Astoria-Behandlung auserkoren. Wie das Hotel. Besseres Essen, bessere Kleidung und, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, weniger Arbeit.»
    «Ich arbeite», sagte ich. «Wie alle anderen auch.»
    «Ach ja? Wann hat dich ein Blauer das letzte Mal angeschrien, du sollst schneller arbeiten? Oder dich ein deutsches Schwein genannt?»
    «Jetzt, wo du es sagst, stimmt. In letzter Zeit waren sie ziemlich nett zu mir.»
    «Mit der Zeit werden die anderen
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vergessen, was du für sie getan hast, und nur noch sehen, dass du von den Blauen bevorzugt wirst. Und dann werden sie denken, dass da mehr hintersteckt. Dass du den Blauen im Gegenzug irgendwas lieferst.»
    «Aber das ist Unsinn.»
    «Ich weiß das. Du weißt das. Aber wissen die es? In spätestens sechs Monaten bist du für sie ein Antifa-Agent, ob du in Wahrheit einer bist oder nicht. Darauf spekulieren die Russen. Dass dir, wenn du von deinen eigenen Leuten ausgeschlossen wirst, keine andere Wahl bleibt, als die Seite zu wechseln. Und falls nicht, dann hast du eben irgendwann einen Unfall. Eine Erdwand wird aus unerfindlicher Ursache einsacken und dich lebendig begraben. Aber deine Retter werden zu spät kommen. Und falls du doch gerettet wirst, bleibt dir nichts anderes übrig, als Gebhardts Platz einzunehmen. Das heißt, falls du weiterleben willst. Du bist einer von denen, mein Freund. Ein Blauer. Du weißt es nur noch nicht.»
    Ich wusste, dass Pospelow recht hatte. Pospelow wusste alles über das Leben in K.-A. Wie auch nicht? Schließlich war er seit Stalins Großer Säuberung hier. Als Musiklehrer der Familie eines hohen sowjetischen Politikers, den man 1937 verhaftet und hingerichtet hatte, war Pospelow zu zwanzig Jahren verurteilt worden – Sippenhaft, sozusagen. Um dafür zu sorgen, dass er nie wieder Klavier spielen konnte, hatte das NKWD ihm beide Hände mit einem Hammer zertrümmert.
    «Was soll ich machen?», fragte ich ihn.
    «Gegen sie bist du machtlos.»
    «Willst du etwa sagen, ich soll mich ihnen anschließen?»
    Pospelow zuckte die Achseln. «Wer weiß, wohin die gewundenen Pfade des Lebens führen. Außerdem, die meisten von ihnen sind nicht anders als wir, nur dass sie blaue Schulterstücke tragen.»
    «Nein, das kann ich nicht.»
    «Dann musst du gut auf dich aufpassen. Lass dir am besten Augen am Hinterkopf wachsen.»
    «Ich muss doch irgendwas tun können, Iwan Jefremowitsch. Ich kann was von meinem Essen abgeben, oder? Meine wärmeren Sachen verschenken?»
    «Dann finden sie bloß andere Mittel und Wege, um klarzumachen, dass du bevorzugt behandelt wirst. Oder sie werden jeden schikanieren, dem du hilfst. Du musst diesen NKWD -Major schwer beeindruckt haben, Gunther.» Er seufzte, schaute in den grauweißen Himmel und sog die Luft ein. «Es könnte jeden Tag Schnee geben. Dann wird die Arbeit härter. Wenn du irgendwas unternehmen willst, solltest du es bald tun, ehe es schneit, die Tage kürzer werden und die Stimmung schlechter und die Blauen uns noch mehr hassen, weil sie unseretwegen in der Kälte Wache schieben müssen. In gewisser Weise sind sie Gefangene genau wie wir. Das solltest du nie vergessen.»
    «Ach, Pospelow, du würdest sogar in einem Wolfsrudel noch was Gutes sehen.»
    «Möglich. Übrigens ist dein Beispiel gar nicht so schlecht, mein Freund. Wenn du willst, dass die Wölfe aufhören, dir die Hand zu lecken, musst du einen von ihnen beißen.»
    Diese Worte hörte ich nicht gern. Einen der Wachmänner anzugreifen war ein schwerwiegendes Vergehen – zu schwerwiegend, um es ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Andererseits hatte er recht: Falls die Russen mich weiter bevorzugt behandelten, würde ich irgendwann durch die Hand meiner eigenen Kameraden einen tödlichen Unfall erleiden. Viele von ihnen waren skrupellose Nazis und widerten mich an, aber sie waren nun mal meine Landsleute. Sollte ich ihnen die Treue halten oder mich auf die Seite der Bolschewiken schlagen, um meine eigene Haut zu retten? Ich kam rasch zu dem Schluss, dass ich schon länger lebte, als ich eigentlich erwartet hatte, und dass mir wahrscheinlich gar keine Wahl blieb. Ich hasste die Bolschewiken genauso, wie ich die Nazis hasste, unter den gegebenen Umständen vielleicht sogar mehr. Der NKWD war nichts anderes als

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