Mission Walhalla
eine Gestapo mit vier kyrillischen Buchstaben, und ich hatte die Nase gestrichen voll von allem, was in irgendeiner Weise mit dem Staatssicherheitsapparat zu tun hatte.
Ich wusste also, was ich zu tun hatte, und so marschierte ich vor den Augen nahezu aller
plenis
im halb ausgehobenen Kanal auf Unteroffizier Degermenkoi zu und baute mich vor ihm auf. Verblüfft beobachtete er, wie ich ihm die Zigarette aus dem Mund nahm und munter ein paar Züge paffte. Ich hatte nicht den Mut, ihn zu schlagen, aber immerhin überwand ich mich dazu, die blau gebänderte Mütze von seinem hässlichen Stumpfkopf zu stupsen.
Es war das erste und einzige Mal, dass ich in K.-A. Gelächter hörte. Und es war auch das Letzte, was ich für längere Zeit hörte. Ich winkte noch den anderen
plenis
zu, als mich etwas Hartes seitlich am Kopf traf – vielleicht der Schaft von Degermenkois Maschinengewehr –, und das mehr als einmal. Meine Beine gaben nach, und der harte, kalte Boden schien mich zu verschlucken, als wäre ich ein Wassertropfen aus der Wolga. Die schwarze Erde umhüllte mich, drang mir in Nase, Mund und Ohren, und dann brach ich vollends zusammen und stürzte in den grauenhaften Schlund, den der Große Stalin und seine mordlustige rote Bande für mich ausgehoben hatten. Und als ich in dieser bodenlosen tiefen Grube versank, winkten sie mir mit behandschuhten Händen vom Dach des Lenin-Mausoleums aus zu, während um mich herum Menschen meinen Untergang beklatschten, sich freuten, dass sie selbst es besser getroffen hatten, und mir Blumen hinterherwarfen.
Was dann kam, hätte mich eigentlich nicht beeindrucken sollen. Immerhin war ich als Polizist oft im Gefängnis gewesen, um Verdächtige zu verhören und Zeugenaussagen aufzunehmen. Gelegentlich hatte ich mich sogar selbst auf der falschen Seite der Zellentür befunden: einmal 1934, als ich den Potsdamer Polizeichef verärgert hatte, und dann wieder 1936, als Heydrich mich als verdeckten Ermittler nach Dachau geschickt hatte, um das Vertrauen eines Kleinkriminellen zu gewinnen. Dachau war schlimm gewesen, aber nicht so schlimm wie Krasno-Armeisk und der Knast, in dem ich jetzt saß. Er war nicht mal besonders schmutzig oder so. Das Essen war gut, ich durfte sogar duschen und bekam Zigaretten. Was also machte mir so zu schaffen? Ich vermute, es lag daran, dass ich zum ersten Mal allein war, seit ich Berlin 1944 verlassen hatte. Fast zwei Jahre lang hatte ich mit einem oder mehreren Deutschen mein Quartier geteilt, und auf einmal konnte ich nur noch Selbstgespräche führen. Die Wachen sagten nichts. Ich sprach sie auf Russisch an, aber sie ignorierten mich. Es war eine Qual, von meinen Kameraden getrennt zu sein, völlig abgeschnitten von allem, und mit jedem Tag, der verging, wurde es schlimmer. Gleichzeitig fühlte ich mich in meiner Zelle wie lebendig begraben, was vermutlich auch daher rührte, dass ich in den vergangenen sechs Monaten so viel Zeit im Freien verbracht hatte. So wie die überwältigende Größe Russlands mich einst hatte verzweifeln lassen, so war es jetzt die Enge meiner fensterlosen Zelle – drei Schritte lang und halb so breit –, die mich zermürbte. Jede Minute des Tages kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich hatte bereits ein langes Leben gelebt, und trotzdem gelang es mir kaum, irgendwelche Gedanken und Erinnerungen abzurufen. Nach allem, was ich erlebt und getan hatte, hätte ich gedacht, dass ich mich stundenlang mit der Suche nach der verlorenen Zeit hätte beschäftigen können. Aber nein. Es war, als würde ich durch das falsche Ende eines Teleskops blicken. Meine Vergangenheit war weit weg, beinahe unsichtbar, und belanglos. Und was die Zukunft betraf, so erschienen mir die Tage, die vor mir lagen, so unüberschaubar und leer wie die russische Steppe. Aber am elendesten fühlte ich mich, wenn ich an meine Frau dachte. Schon allein die Vorstellung, wie sie in unserer kleinen Wohnung in Berlin auf mich wartete, vorausgesetzt, das Wohnhaus war nicht in Schutt und Asche gelegt, konnte mich zum Weinen bringen. Wahrscheinlich hielt sie mich für tot. Und ich hätte ebenso gut tot sein können. Beerdigt war ich bereits. Ich musste nur noch sterben.
Mit meinen Exkrementen markierte ich das Verstreichen der Zeit auf den Porzellanfliesen an den Wänden. So wusste ich, dass vier Monate vergingen. Unterdessen nahm ich etwas zu. Sogar mein Raucherhusten kehrte zurück. Die Monotonie ließ meinen Verstand abstumpfen. Ich lag auf der Holzpritsche mit der
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