Mission Walhalla
Oberlippenbarts passte zu seiner kleinen blauen Fliege. Das ausgeprägte Kinn machte ihn nicht unbedingt attraktiv, und obwohl er es in diesem Punkt längst nicht mit Karl V. aufnehmen konnte, hätten sich einige an seiner Stelle, mich eingeschlossen, einen kurzen Bart stehen lassen, damit die untere Gesichtspartie unauffälliger wirkte. Aber was kümmerte es mich, ich wünschte ihm ohnehin die Pest an den Hals.
Die Tür öffnete sich. Diese Zelle war nicht verschlossen, die Tür schwang einfach auf, und ein Wachmann brachte ein paar Klamotten herein, gefolgt von einem Kollegen, der ein Tablett mit Kaffee und einer warmen Mahlzeit trug. Die Kleidung beeindruckte mich nicht sonderlich, weil es dieselbe war, die ich am Vortag angehabt hatte, aber der Kaffee und das Essen dufteten, als kämen sie direkt aus der Küche des Kempinski. Ich griff zu, ehe sie es sich anders überlegten. Ich benutzte das Besteck nicht, weil meine Hände es noch nicht richtig halten konnten. Also aß ich mit den Fingern, wischte sie mir an Oberschenkeln und Hinterteil ab. Ich hatte in meiner Situation weiß Gott keine Lust, auf Tischmanieren zu achten. Sofort fühlte ich mich besser. Ist schon erstaunlich, wie gut selbst amerikanischer Kaffee schmecken kann, wenn man ihn nötig hat.
«Willkommen in Ihrer neuen Zelle», sagte der Pfeifen-Mann. «Nummer sieben.»
«Sagt Ihnen die Zahl was?» Der andere Ami, der mit der Brille, hatte kurzes graues Haar und sah aus wie ein College-Professor. Die Bügel der Brille waren zu kurz für seinen Kopf und standen ihm von den Ohren ab. Entweder die Brille war nur geliehen, oder sie war einfach zu klein für sein Gesicht. Oder vielleicht war sein Kopf abnorm groß, damit die vielen abnormen Gedanken – die sich offenbar überwiegend um mich drehten – darin Platz hatten.
Ich zuckte die Achseln. Mein Gehirn war leer.
«Sie wissen selbstverständlich, wo Sie sich befinden. In der Zelle des Führers. Da, wo Sie gerade essen, hat er sein Buch geschrieben. Und ich weiß nicht, was ich persönlich widerlicher finde. Die Vorstellung, wie er seine vergifteten Gedanken aufschreibt. Oder wie Sie mit den Fingern essen.»
«Ich werde versuchen, mir nicht den Appetit verderben zu lassen.»
«Nach allem, was man so hört, ist es Hitler hier in Landsberg prächtig ergangen.»
«Dann haben Sie damals wohl noch nicht hier gearbeitet.»
«Sagen Sie, Gunther. Haben Sie es gelesen? Hitlers Buch?»
«Ja. Ayn Rand gefällt mir besser. Aber nur ein bisschen.»
«Sie mögen Ayn Rand?»
«Nein. Aber ich glaube, Hitler hätte sie gemocht. Er wollte ja eigentlich Architekt werden. Aber er konnte sich noch nicht mal Papier und Stifte leisten. Ganz zu schweigen von der erforderlichen Ausbildung. Außerdem war sein Ego nicht groß genug. Und ich glaube, man muss ziemlich zäh sein, um es in dieser Branche zu was zu bringen.»
«Sie sind selbst ziemlich zäh, Gunther», sagte der mit der Brille.
«Ich? Nein. Wie viele zähe Burschen sitzen nackt am Frühstückstisch?»
«Nicht viele.»
«Außerdem ist es leicht, auf zäh zu machen, wenn man einen Sack über dem Kopf trägt. Selbst wenn man ständig daran denken muss, wie es sich wohl anfühlt, wenn noch dazu die Füße in der Luft baumeln.»
«Falls Sie das irgendwann mal rausfinden möchten, sind wir Ihnen gerne behilflich.»
«Ganz recht, Sie könnten Klingelhöfers Platz bei den Probeläufen einnehmen.»
«Wir waren im Juni einundfünfzig dabei, als die fünf Kriegsverbrecher hingerichtet wurden.»
«Ich wette, Sie haben sich die Bilder in Ihr Fotoalbum geklebt.»
«Sie starben ganz friedlich. Als hätten sie sich in ihr Schicksal ergeben. Was eine gewisse Ironie hat, wenn man bedenkt, dass sie dasselbe über die vielen Juden gesagt haben, die von ihnen umgebracht wurden.»
Ich schob mein leeres Frühstückstablett beiseite. «Kein Mensch stirbt gern», sagte ich. «Aber manchmal ist es schlimmer, am Leben zu bleiben.»
«Ha, sie hätten nur zu gern weitergelebt. Was glauben Sie, wie viele ein Gnadengesuch eingereicht haben? Alle. Ich hab ein paar der Briefe an McCloy gelesen. Wie zu erwarten, kreisten sie darin nur um sich selbst.»
«Tja», sagte ich. «Das ist der Unterschied zwischen mir und denen. Ich kann beim besten Willen nicht um mich selbst kreisen. Ich habe mein Ich nämlich schon vor langer Zeit in die Wüste geschickt. Heutzutage versuche ich, ohne es zurechtzukommen.»
«Sie sagen das, als wollten Sie gar nicht weiterleben, Gunther.»
«Und
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