Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
sollen. Die Ergebnisse sind hier versammelt, zusammen mit ein paar »Vorträgen« – eine für mich noch problematischere Textform. Schriftsteller sollten schreiben und keine Reden halten! Aber wie bei den quasi-journalistischen Auftragsarbeiten sind auch mit Vorträgen Flugtickets und Hotelzimmerreservierungenverbunden, in Städten, die man sonst vielleicht nie besucht hätte. Beim Redenschreiben findet man außerdem oft heraus, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt über ein bestimmtes Thema denkt. Über die Welt an sich. Oder die Zukunft. Oder die Unmöglichkeit, über beides allgemeingültige Aussagen zu treffen. Das Redenschreiben fällt mir noch schwerer als das Verfassen von Zeitschriftenartikeln und Essays, aber später, wenn ich wieder zur Literatur zurückkehre, stelle ich oft fest, dass mir dabei einiges klar geworden ist.
Am Ende meiner Schreiblernversuche hatte ich es irgendwann geschafft, etwas zu verfassen, das als Literatur durchging. Ich kam mir nicht mehr wie ein Hochstapler vor. Beim Schreiben von Sachtexten hatte ich dagegen oft das Gefühl, die Wände eines Wohnzimmers mit einer Zahnbürste anzustreichen. Wieder schrie alles in mir: Hochstapler. Vielleicht werden die Leser den Stil meiner Texte für das Resultat einer bewussten Entscheidung halten. (Nun, vielleicht auch nicht.) Das Schreiben von Literatur ist für mich jedenfalls eine einzigartige Erfahrung, die Bewegung durch eine neurologische Landschaft, ein veränderter Bewusstseinszustand. Bei Sachtexten ist das anders. Inzwischen gelingt es mir aber immer öfter, etwas zu verfassen, das als Zeitungsartikel oder Essay durchgeht.
Die folgenden Stücke sind demnach auf dem afrikanischen Daumenklavier gespielt, einem Instrument, das ich nur ansatzweise beherrsche.
Komponiert wurden sie dagegen auf einem, das keinen Namen hat und von dem mir noch jede Vorstellung fehlt.
Vancouver,
August 2011
Rolling Stone
Juni 1989
Der Junge hockt neben einem Gartenzaun in Virginia und lauscht Chubby Checker in seinem Rocket Radio. Der Zaun ist aus Eisen, sehr alt und ungestrichen, seine Pfosten vom Regen und dem steten Wechsel der Jahreszeiten abgewetzt. Das Rocket Radio ist aus rotem Plastik und mit einer Krokodilklemme am Zaun befestigt. Der Sound kommt aus einem Plastikstöpsel im Ohr des Jungen. Die Drähte, die den Ohrstöpsel und die Klemme mit dem Rocket Radio verbinden, besitzen einen »fleischfarbenen« Ton, wie es in der Bauanleitung heißt. Das Rocket Radio selbst passt in die Handfläche des Jungen. Seine Mutter nennt es ein Detektorradio und sagt, Jungen hätten solche Radios schon gebaut, bevor es sie im Laden zu kaufen gab – um die Signale aufzufangen, die vom Himmel kommen.
Das Rocket Radio braucht keine Batterie. Ein verrosteter Nachbarzaun, etwa 300 Meter lang, reicht als Antenne aus.
Und Chubby Checker singt: Do the twist.
Der Junge mit dem Rocket Radio liest eine Menge Science Fiction – die ihn nur ungenügend auf die zukünftigen Realitäten des Netzes vorbereitet.
Er weiß nicht einmal, dass Chubby Checker und das Rocket Radio Teil des Netzes sind.
Kommunikationstechnologien, die einmal perfektioniert wurden, sterben selten komplett aus. Stattdessen schrumpfen sie zusammen, um bestimmte Nischen in der globalen Infostruktur zu füllen. Detektorradios könnten beispielsweise isoliertlebenden agrarischen Stämmen die idealen Saatzeiten übermitteln. Das Samisdat-Potenzial des Mimeographen – einer von vielen Dinosauriern des urbanen Büroraums und das spätviktorianische Äquivalent zum Desktop-Publishing – in den rückständigen Regionen dieses Jahrhunderts ist ungebrochen. In unzähligen Dritte-Welt-Dörfern werden in den Banken die Tagesbilanzen auf schwarzen Addiermaschinen der Firma Burroughs errechnet, die lange, seltsam festlich anmutende Papierschlangen mit endlosen Reihen blasser, indigofarbener Ziffern ausspucken. Die Sowjetunion, in der sich die neuen, schönen Wegwerftechnologien noch nicht durchgesetzt haben, ist mittlerweile die letzte verlässliche Quelle für Elektronenröhren. Die 8-Spur-Kassette hat in den Truckstops der US-amerikanischen Südstaaten überlebt, als Medium für Countrymusik und Pornografie.
Die Menschen verwenden die Dinge häufig ganz anders, als von den Herstellern vorgesehen. Der Mikrokassettenrekorder – ursprünglich dazu gedacht, die Anweisungen von Firmenchefs aufzunehmen – wird zum revolutionären Medium der Magnitisdat . Mit seiner Hilfe werden in Polen und China heimlich
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