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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sie Ihnen erzählte, eine Art von Erlösung erlangt zu haben. Und mag sie auch noch so dürftig und zerbrechlich sein, besitzt jegliche Art von Erlösung für mich einen unschätzbaren Wert. Zudem kann ich beim Gedanken, daß es Herr Honda war, der mich zu ihr führte, nicht umhin, das Walten der feingesponnenen Fäden des Schicksals zu erahnen. Bitte vergessen Sie nicht, Herr Okada, daß hier jemand ist, der Ihnen seine besten Wünsche für ein glückliches weiteres Leben sendet.
     
    Ich las den Brief ein zweites Mal aufmerksam durch und steckte ihn dann in seinen Umschlag zurück.
    Leutnant Mamiyas Brief berührte mein Herz auf seltsame Weise, aber vor meinem geistigen Auge beschwor er nur undeutliche und ferne Bilder herauf. Leutnant Mamiya war ein Mann, dem ich Vertrauen und Respekt entgegenbringen konnte, und wenn er behauptete, bestimmte Dinge seien Tatsachen, dann konnte ich sie auch als Tatsachen akzeptieren. Aber in dem Moment besaß der Begriff der Tatsächlichkeit oder Wahrheit für mich nur geringe Überzeugungskraft. Was mich an dem Brief am meisten bewegte, war das Gefühl von Vergeblichkeit, das sich in den Worten des Leutnants äußerte: die Enttäuschung, nichts je zu seiner völligen Zufriedenheit beschreiben oder erklären zu können. Ich ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Dann wanderte ich ziellos durch das Haus. Im Schlafzimmer setzte ich mich aufs Bett und sah Kumikos Kleider an, die im Schrank aufgereiht hingen. Und ich dachte: Was hat mein Leben bis jetzt für einen Sinn gehabt? Ich verstand, was Noboru Wataya gemeint hatte. Meine erste Reaktion auf seine Worte war Zorn gewesen, aber ich mußte zugeben, daß er recht hatte. »Sie sind sechs Jahre lang mit meiner Schwester verheiratet gewesen«, hatte er gesagt, »und was haben Sie in dieser ganzen Zeit geleistet? Nichts, richtig? In sechs langen Jahren haben Sie nichts anderes zuwege gebracht, als Ihre Stelle zu kündigen und Kumikos Leben zu ruinieren. Jetzt sind Sie arbeitslos und haben keinerlei Pläne für die Zukunft. Sie haben nichts im Kopf als Müll und Schrott.« Ich konnte nicht umhin zuzugeben, daß seine Beurteilung zutraf. Objektiv betrachtet, hatte ich in diesen sechs Jahren nichts irgendwie Bedeutendes geleistet, und was ich im Kopf hatte, wies in der Tat eine ziemliche Ähnlichkeit mit Müll und Schrott auf. Ich war eine Null. Genau wie er gesagt hatte.
    Aber stimmte es, daß ich Kumikos Leben ruiniert hatte?
    Lange sah ich ihre Kleider und Blusen und Röcke im Schrank an. Das waren die Schatten, die Kumiko zurückgelassen hatte. Ihrer Herrin beraubt, konnten diese Schatten nur da hängenbleiben, wo sie waren, erschlafft. Ich ging ins Bad und holte die Flasche Eau de Toilette heraus, die Kumiko von jemandem geschenkt bekommen hatte. Ich öffnete sie und roch daran. Es war der Duft, den ich an dem Morgen hinter Kumikos Ohren gerochen hatte. An dem Morgen, als sie von zu Hause weggegangen war. Langsam goß ich den ganzen Inhalt ins Waschbecken. Während die Flüssigkeit in den Abfluß rann, stieg ein starker Duft von Blumen (deren Namen ich mir erfolglos ins Gedächtnis zurückzurufen versuchte) über dem Waschbecken auf und rief Erinnerungen von grausamer Intensität wach. Eingehüllt in dieses intensive Aroma, wusch ich mir das Gesicht und putzte mir die Zähne. Dann beschloß ich, May Kasahara zu besuchen.
     
    Wie immer blieb ich auf Höhe des Miyawakischen Hauses auf der Gasse stehen und wartete darauf, daß May Kasahara auftauchte, aber diesmal funktionierte es nicht. Ich lehnte mich gegen den Zaun, lutschte an einem Zitronenbonbon, betrachtete die Vogelplastik und dachte über Leutnant Mamiyas Brief nach. Doch bald begann es, dunkel zu werden. Nachdem ich fast eine halbe Stunde lang gewartet hatte, gab ich auf. May Kasahara war wahrscheinlich irgendwo unterwegs. Ich ging wieder die Gasse zurück und kletterte über die Mauer. Im Haus empfing mich die verstummte blasse Dunkelheit eines Sommerabends. Und Kreta Kano. Einen halluzinatorischen Augenblick lang meinte ich zu träumen. Aber nein, dies war die Fortsetzung der Wirklichkeit. In der Luft schwebte noch immer eine Spur des Eau de Toilette, das ich weggeschüttet hatte. Kreta Kano saß, die Hände auf den Knien, auf dem Sofa. Ich ging näher heran, aber als sei in ihr die Zeit selbst stehengeblieben, machte sie nicht die leiseste Bewegung. Ich schaltete das Licht ein und setzte mich ihr gegenüber in den Sessel.
    »Die Tür war nicht

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