Mister Aufziehvogel
verwirft alles, was die Grenzen des eigenen Fassungsvermögens sprengt, als absurd und des Nachdenkens nicht wert. Ich wünschte selbst, meine Geschichten wären in der Tat nichts als unglaubwürdige Lügengespinste. Ich habe mich in all diesen Jahren nur dadurch aufrecht gehalten, daß ich mich an die schwache Hoffnung geklammert habe, diese meine Erinnerungen seien nichts als ein Traum oder eine Wahnvorstellung. Ich habe mit aller Kraft danach gestrebt, mich davon zu überzeugen, daß diese Dinge niemals geschehen sind. Aber jedesmal, wenn ich versuchte, die Erinnerungen ins Dunkel abzudrängen, kehrten sie stärker und lebhafter zurück als zuvor. Wie Krebszellen haben sich diese Erinnerungen in meinem Geist festgesetzt und in mein Fleisch gefressen. Selbst jetzt noch ist mir jedes noch so winzige Detail mit solch entsetzlicher Klarheit gegenwärtig, daß ich meine, mich an Ereignisse zu erinnern, die sich erst gestern zugetragen haben. Ich kann den Sand und das Gras mit meinen Händen berühren; ich kann sie riechen. Ich kann die Formen der Wolken am Himmel sehen. Ich kann den trockenen, sandigen Wind an meinen Wangen spüren. Im Vergleich damit erscheinen mir eher die Ereignisse meines seitherigen Lebens wie Trugbilder aus dem Grenzbereich von Traum und Wirklichkeit.
Die Wurzeln meines Lebens - jene Dinge, von denen ich behaupten kann, daß sie einst wahrhaft mir und mir allein gehörten - vereisten oder verbrannten da draußen, in den Steppen der Äußeren Mongolei, wo es nichts gab, was den Blick gehemmt hätte, soweit das Auge reichte. Später verlor ich meine Hand in dieser erbitterten Schlacht gegen die sowjetische Panzereinheit, die über die Grenze vorstieß; erduldete in einem sibirischen Arbeitslager, im tiefsten Winter, unvorstellbare Mühsale; wurde in die Heimat zurückgeschickt und unterrichtete dreißig ereignislose Jahre lang Gemeinschaftskunde in einer ländlichen Oberschule; und lebe seither allein und bestelle das Land. Aber all diese folgenden Monate und Jahre fühlen sich für mich wie bloße Einbildung an. Es ist, als hätten sie niemals stattgehabt. In einem einzigen Augenblick springt meine Erinnerung über diese hohle Hülse von Zeit hinweg und versetzt mich wieder in die Einöde von Hulunbuir. Was mich das Leben kostete, was mein Leben in diese leere Hülse verwandelte, war, wie ich glaube, etwas, was sich in dem Licht verbarg, das ich auf dem Grund des Brunnens sah - jenem gleißenden Sonnenlicht, das für die Dauer von zehn oder zwanzig Sekunden bis ganz hinunter auf den Grund des Brunnens drang Es kam ohne jede Vorwarnung, und es verschwand wieder ebenso unvermittelt. Aber in jener flüchtigen Lichtflut sah ich etwas - sah ich etwas ein für allemal -, das mir danach nie wieder zu sehen vergönnt sein sollte. Und nachdem ich es gesehen hatte, war ich nicht mehr derselbe Mensch, der ich gewesen war.
Was geschah dort unten? Was bedeutete es? Selbst heute, über vierzig Jahre danach, vermag ich es nicht, diese Fragen mit auch nur annähernder Gewißheit zu beantworten. Und so ist das, was ich sage, eine reine Hypothese, eine tentative Erklärung, die ich mir zurechtgelegt habe, ohne mich dabei auf irgendwelche logischen Voraussetzungen stützen zu können. Ich glaube jedoch fest, daß diese meine Hypothese die größtmögliche Annäherung an die Wahrheit meines Erlebnisses darstellt, die irgend jemand zu erreichen vermag. Mongolische Soldaten hatten mich in einen tiefen trockenen Brunnen geworfen, inmitten der Steppe, ich hatte mir das Bein und die Schulter gebrochen, ich hatte weder zu essen noch zu trinken: Ich wartete einfach auf den Tod. Vorher hatte ich mit angesehen, wie ein Mensch bei lebendigem Leib abgehäutet worden war. Unter diesen besonderen Umständen hatte mein Bewußtsein, wie ich glaube, einen so zähflüssigen Zustand der Konzentration erreicht, daß, als der gleißende Lichtstrahl diese wenigen Sekunden lang herabstrahlte, ich imstande war, direkt in einen Punkt hinabzusteigen, den man als den innersten Kern meines Gewahrseins bezeichnen könnte. Jedenfalls sah ich dort unten eine Gestalt. Stellen Sie sich nur vor: Alles um mich herum ist in Licht getaucht. Ich befinde mich im Mittelpunkt einer Flut von Licht. Meine Augen können nichts sehen. Ich bin einfach von Licht eingehüllt. Aber etwas beginnt, dort zu erscheinen. Inmitten meiner momentanen Blindheit versucht etwas, Gestalt anzunehmen. Ein Etwas. Ein Etwas, das mit Leben begabt ist. Wie der Schatten
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