Mister Aufziehvogel
bin ich eine Prostituierte, Herr Okada. Früher war ich eine Prostituierte des Fleisches, und jetzt bin ich eine Prostituierte des Geistes. Dinge gehen durch mich hindurch.« Hier stand Kreta Kano auf, kniete sich neben mich hin und umklammerte meine Hand mit ihren beiden Händen. Sie hatte weiche, warme, sehr kleine Hände. »Bitte halten Sie mich fest, Herr Okada. Hier und jetzt.«
Wir standen auf, und ich legte meine Arme um sie. Ich hatte ehrlich keine Ahnung, ob es richtig war, was ich da tat. Aber Kreta Kano in diesem Augenblick, an diesem Ort festzuhalten, schien zumindest kein Fehler zu sein. Ich hätte es nicht erklären können, aber das war das Gefühl, das ich hatte. Ich schlang die Arme um ihren schlanken Körper, als sei ich ein Junge bei seiner ersten Tanzstunde. Sie war eine kleine Frau. Ihr Scheitel reichte mir bis knapp unter das Kinn. Ihre Brüste preßten gegen meinen Magen. Sie lehnte ihre Wange an meine Brust. Und obwohl sie die ganze Zeit keinen Laut von sich gab, weinte sie. Ich spürte die Wärme ihrer Tränen durch mein T-Shirt. Ich schaute hinunter und sah ihr perfekt frisiertes Haar zittern. Ich kam mir vor wie in einem gut konstruierten Traum. Aber es war kein Traum.
Nachdem wir sehr lange, ohne uns zu bewegen, in dieser Haltung verharrt hatten, zog sie sich von mir zurück, als habe sie sich plötzlich an etwas erinnert. Aus einiger Distanz sah sie mich an.
»Herzlichen Dank, Herr Okada«, sagte sie. »Jetzt werde ich nach Hause gehen.« Dafür, daß sie eben noch recht heftig geweint hatte, war ihr Make-up bemerkenswert intakt. Das Gefühl von Wirklichkeit hatte sich mit einem Mal völlig verflüchtigt.
»Kommen Sie irgendwann einmal wieder in meine Träume?« fragte ich. »Ich weiß es nicht«, sagte sie und schüttelte sanft den Kopf. »Das kann selbst ich Ihnen nicht sagen. Aber bitte vertrauen Sie mir. Was immer passieren mag, Sie dürfen sich nicht vor mir fürchten oder das Gefühl haben, Sie müßten vor mir auf der Hut sein. Versprechen Sie mir das, Herr Okada?« Ich antwortete mit einem Kopfnicken. Bald darauf ging Kreta Kano heim.
Die Dunkelheit der Nacht war tiefer denn je. Mein T-Shirt war vorn völlig naß. Unfähig, Schlaf zu finden, blieb ich bis zum Morgengrauen auf. Ich war nicht müde, und ehrlich gesagt fürchtete ich mich auch vor dem Schlaf. Ich hatte das Gefühl, wenn ich einschliefe, würde ich von Treibsand erfaßt und fortgetragen in eine andere Welt, aus der ich nie wieder zurückfände. Ich blieb bis zum Morgen auf dem Sofa, trank Brandy und dachte über Kreta Kanos Geschichte nach. Selbst als die Nacht geendet hatte, schwebten Kreta Kanos Gegenwart und der Dior-Duft durchs Haus wie gefangene Geister.
5
A NSICHTEN FERNER ORTSCHAFTEN
EWIGER HALBMOND
LEITER, FEST VERANKERT
Das Telefon klingelte fast genau in dem Moment, als ich einzuschlafen begann. Ich versuchte, es zu ignorieren, aber als könne es meine Gedanken lesen, klingelte es stur weiter: zehnmal, zwanzigmal - es würde nie aufhören. Schließlich öffnete ich ein Auge und sah auf den Wecker. Kurz nach sechs. Draußen vor dem Fenster war es schon taghell. Es konnte Kumiko sein, die da anrief. Ich stand auf, ging ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab.
»Hallo«, sagte ich, aber der Anrufer sagte nichts. Eindeutig war jemand am anderen Ende, aber dieser Jemand schwieg. Ich blieb gleichfalls stumm. Als ich konzentriert lauschte, hörte ich ein leises Atemgeräusch. »Wer ist da?« fragte ich, aber am andere Ende wurde weiter geschwiegen. »Wenn es die Person ist, die hier ständig anruft, tun Sie mir einen Gefallen und versuchen Sie’s ein bißchen später noch mal«, sagte ich. »Bitte kein Sex-Gerede vor dem Frühstück.«
»Die Person, die ständig anruft?« sprudelte May Kasaharas Stimme hervor. »Mit wem reden Sie denn über Sex?«
»Mit niemandem«, sagte ich.
»Mit der Frau, die Sie gestern nacht in den Armen gehalten haben? Reden Sie mit der am Telefon über Sex?«
»Nein, die ist es nicht.«
»Sagen Sie mal, Mister Aufziehvogel, mit wie vielen Frauen genau haben Sie eigentlich was laufen - neben Ihrer eigenen?«
»Das wäre eine sehr lange Geschichte«, sagte ich. »Überhaupt, es ist sechs Uhr früh, und ich hab nicht viel geschlafen. Du warst also letzte Nacht hier?«
»Und hab Sie mit ihr gesehen - eng umschlungen.«
»Das hatte weiter nichts zu bedeuten«, sagte ich. »Wie soll ich sagen? Es war etwas wie eine kleine Zeremonie.«
»Sie brauchen mir keine Ausreden
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