Mister Aufziehvogel
während einer Sonnenfinsternis, beginnt es, sich schwarz im Licht abzuzeichnen. Aber es will mir nicht gelingen, seine Gestalt zu erkennen. Es versucht, zu mir zu kommen, versucht, mir etwas zu verleihen, was einer himmlischen Gnade sehr nahe kommt. Ich erwarte es, zitternd. Aber dann, sei es, daß es seine Meinung geändert hat, sei es, daß die Zeit nicht mehr reicht, kommt es doch nicht. Im letzten Augenblick, bevor es vollständig Gestalt annimmt, löst es sich auf und geht wieder im Licht auf. Dann verblaßt auch das Licht. Die Zeit, die das Licht hat, in den Brunnen hinabzuleuchten, ist zu Ende.
Dies geschah an zwei Tagen hintereinander. Exakt das gleiche. Etwas begann, im überflutenden Licht Gestalt anzunehmen, und verblaßte dann, ehe es einen Zustand der Vollständigkeit erreichen konnte. Dort unten im Brunnen litt ich Hunger und Durst - litt unsägliche Qualen. Doch das war letztlich ohne Bedeutung. Worunter ich auf dem Grund des Brunnens am tiefsten litt, war die Folter, außerstande zu sein, eine klare Schau jenes Etwas zu erlangen, das im Licht war: der Hunger, nicht sehen zu können, was ich sehen mußte, der Durst, nicht wissen zu können, was ich wissen mußte. Wäre ich nur imstande gewesen, es deutlich zu sehen, hätte es mir nichts ausgemacht, noch im selben Augenblick zu sterben. Ich empfand wirklich so. Für den unverhüllten Anblick seiner Form hätte ich alles hingegeben.
Zuletzt aber wurde mir die Form endgültig entrissen. Die Gnade erschöpfte sich, ehe sie mir zuteil werden konnte. Und wie ich schon sagte, war das Leben, das ich nach meiner Auferstehung aus jenem Loch in der Erde geführt habe, nichts als eine hohle, leere Hülse. Das ist auch der Grund, warum ich mich, als die Sowjetarmee unmittelbar vor Kriegsende in die Mandschurei einmarschierte, an die Front meldete. Auch im sibirischen Arbeitslager strebte ich bewußt danach, in die beschwerlichsten Umstände zu geraten. Doch was ich auch tat, ich konnte nicht sterben. Genau wie Korporal Honda es in jener Nacht vorausgesagt hatte, war es mir bestimmt, nach Japan zurückzukehren und ein ungewöhnlich langes Leben zu leben. Ich erinnere mich, wie glücklich mich diese Mitteilung damals machte. Doch dann entpuppte sie sich in Wahrheit als ein Fluch. Es war nicht so, daß ich nicht hätte sterben wollen: Ich konnte nicht sterben. Auch diesbezüglich hatte Korporal Honda recht gehabt: Es wäre für mich besser gewesen, es nicht zu wissen.
Als die Offenbarung und die Gnade verloren waren, war mein Leben verloren. Jene lebendigen Dinge, die einst in mir gewesen waren und die aus diesem Grunde einen gewissen Wert besessen hatten, waren jetzt tot. Nicht eines von ihnen war übriggeblieben. Sie waren alle in jenem unerbittlichen Licht zu Asche verbrannt. Die Glut dieser Offenbarung oder Gnade hatte den innersten Kern des Lebens verzehrt, der mich zu dem Menschen gemacht hatte, der ich war. Dieser Glut zu widerstehen, hatte mir die Kraft gefehlt. Und so fürchte ich mich nicht vor dem Tod. Wenn überhaupt, so würde ich meinen leiblichen Tod als eine Form der Erlösung willkommen heißen. Er würde mich aus diesem ausweglosen Kerker, von dieser Qual, ich zu sein, endgültig befreien. Wieder habe ich Sie mit einer ungebührlich langen Erzählung behelligt. Ich bitte Sie um Vergebung. Folgendes aber, Herr Okada, möchte ich Ihnen begreiflich machen: Zu einem bestimmten Zeitpunkt verlor ich mein Leben, und seither habe ich, vierzig Jahre lang oder länger, ohne Leben weitergelebt. Kraft dieser meiner besonderen Situation bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß das Leben etwas weit Begrenzteres ist, als jene, die sich im Zentrum seines Mahlstroms befinden, auch nur ahnen. Das Licht dringt nur für den kürzesten Augenblick - vielleicht nur sekundenlang - in den Akt des Lebendigseins ein. Hat man die Gelegenheit, dessen Offenbarung zu fassen, erst einmal verpaßt, gibt es keine zweite Chance. Dann kann es sein, daß man den Rest seines Lebens in hoffnungslosen Abgründen der Einsamkeit und der Reue zubringen muß. In dieser Dämmerwelt gibt es nichts mehr, dem man hoffnungsvoll entgegensehen könnte. Eines solchen Menschen einziges Gut ist der verdorrte Leichnam dessen, was hätte sein sollen.
Jedenfalls bin ich dankbar dafür, daß es mir vergönnt war, Sie, Herr Okada, kennenzulernen und Ihnen meine Geschichte zu erzählen. Ob sie Ihnen jemals von irgendeinem Nutzen sein wird, vermag ich nicht zu sagen. Doch ich habe das Gefühl, indem ich
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