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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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abgeschlossen«, sagte sie schließlich. »Ich bin einfach eingetreten.«
    »Es ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Ich schließe fast nie ab, wenn ich aus dem Haus gehe.«
    Sie trug eine weiße Spitzenbluse, einen malvenfarbenen Rüschenrock und große Ohrringe. Am linken Handgelenk trug sie ein Paar großer, gleicher Armreifen. Bei ihrem Anblick durchfuhr mich ein Schock. Sie unterschieden sich in nichts von denen, die sie in meinem Traum getragen hatte. Frisiert und geschminkt war sie in ihrem gewohnten Stil. Haarspray hielt ihr Haar in makelloser Ordnung, als komme sie gerade vom Coiffeur.
    »Die Zeit ist knapp«, sagte sie. »Ich muß sofort wieder nach Hause. Aber es war mir wichtig, vorher mit Ihnen zu sprechen, Herr Okada. Wenn ich nicht irre, haben Sie sich heute mit meiner Schwester und Herrn Wataya getroffen.«
    »Stimmt. War allerdings kein sonderlich amüsantes Treffen.«
    »Gibt es nichts, was Sie mich im Zusammenhang damit fragen möchten?« fragte sie.
    Andauernd kamen mir alle möglichen Leute mit allen möglichen Fragen. »Ich wüßte gern mehr über Noboru Wataya«, sagte ich. »Ich werde einfach das Gefühl nicht los, daß ich mehr über ihn wissen muß. «
    Sie nickte. »Ich wüßte selbst gern mehr über Herrn Wataya. Wenn ich nicht irre, sagte Ihnen meine Schwester bereits, daß er mich einmal, vor sehr langer Zeit, beschmutzt hat. Ich habe heute keine Zeit, näher darauf einzugehen, aber ich werde es bei späterer Gelegenheit noch tun. Jedenfalls wurde mir gegen meinen Willen etwas angetan. Daß ich Verkehr mit ihm haben würde, war zuvor vereinbart worden. Insofern war es keine Vergewaltigung im landläufigen Sinne des Wortes. Wohl aber beschmutzte er mich, und dadurch wurde ich in vielfacher Hinsicht zu einem anderen Menschen. Am Ende war ich fähig, von diesem Erlebnis zu genesen. Ja, es befähigte mich (natürlich mit Malta Kanos Hilfe), auf eine neue, höhere Ebene zu gelangen. Doch was immer auch das Endresultat gewesen sein mag, die Tatsache bleibt bestehen, daß Noboru Wataya mich damals gegen meinen Willen schändete und beschmutzte. Was er mir antat, war falsch - und gefährlich. Es bestand die reale Möglichkeit, daß ich für immer verloren wäre. Verstehen Sie, was ich meine?«
    Ich verstand nicht, was sie meinte.
    »Natürlich hatte ich auch mit Ihnen Verkehr, Herr Okada, aber das war etwas anderes: Es geschah auf die richtige Weise, mit einer richtigen Zielsetzung. Dadurch wurde ich nicht im mindesten beschmutzt.«
    Ich sah sie mehrere Sekunden lang unverwandt an, als starrte ich auf eine buntfleckige Wand. »Sie hatten mit mir Verkehr?«
    »Ja«, sagte sie. »Das erste Mal benutzte ich nur meinen Mund, aber beim zweiten Mal hatten wir Verkehr. Beide Male im selben Zimmer. Sie erinnern sich doch? Bei der ersten Gelegenheit hatten wir sehr wenig Zeit, wir mußten uns beeilen. Bei der zweiten Gelegenheit hatten wir mehr Muße.« Ich war völlig außerstande, darauf etwas zu erwidern.
    »Das zweite Mal trug ich das Kleid Ihrer Frau. Das blaue. Und Armreifen wie diese hier am linken Handgelenk. Ist es nicht so?« Sie streckte mir ihr linkes Handgelenk mit den zwei Armreifen entgegen. Ich nickte.
    Dann sagte Kreta Kano: »Natürlich hatten wir nicht real Verkehr. Als Sie ejakulierten, geschah es nicht in mir, körperlich, sondern in Ihrem eigenen Bewußtsein. Verstehen Sie? Es war ein erfundenes Bewußtsein. Trotzdem haben wir jetzt beide das Bewußtsein, miteinander Verkehr gehabt zu haben.«
    »Und was war der Sinn der Übung?«
    »Zu erkennen«, sagte sie. »Mehr- und tiefer - zu erkennen.«
    Ich stieß einen Seufzer aus. Das war völlig verrückt. Andererseits hatte sie die Szene in meinem Traum unglaublich genau beschrieben. Ich zog mit dem Finger die Konturen meines Mundes nach und starrte auf die zwei Armreifen an ihrem linken Handgelenk.
    »Vielleicht bin ich nicht der Hellste«, sagte ich mit trockener Stimme, »aber ich kann wirklich nicht behaupten, ich hätte alles verstanden, was Sie mir da erzählt haben.«
    »In Ihrem zweiten Traum, gerade als ich mit Ihnen Verkehr hatte, nahm eine andere Frau meinen Platz ein. War es nicht so? Ich habe keine Ahnung, wer sie war. Aber dieses Ereignis hatte wahrscheinlich den Zweck, Ihnen einen bestimmten Gedanken einzugeben, Herr Okada. Das war’s, was ich Ihnen mitteilen wollte.«
    Ich sagte dazu nichts.
    »Sie brauchen sich deswegen nicht schuldig zu fühlen, weil Sie Verkehr mit mir gehabt haben«, sagte Kreta Kano. »Schließlich

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