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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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auf mich. Sie hatte kleine, wohlgeformte Handteller. »Ich weiß, was ich sage, scheint nicht allzu viel Sinn zu ergeben. Und ich mache Ihnen wegen Ihrer Verärgerung keinen Vorwurf. Aber nichts, was ich Ihnen jetzt sagen könnte, wäre für Sie von irgendeinem praktischen Nutzen. Im Gegenteil, es würde alles verderben. Sie werden den Sieg aus eigener Kraft erringen müssen. Mit Ihren eigenen Händen.«
    »Wie in Abenteuer Wildnis « , sagte ich mit einem Lächeln. »Man wird angegriffen, man schlägt zurück.«
    »So ist es«, sagte Malta Kano. »Genau.« Dann nahm sie, mit der respektvollen Sorgfalt eines Menschen, der die Habseligkeiten eines gerade Verstorbenen zusammenträgt, ihre Handtasche an sich und setzte ihren roten Vinylhut auf. Als sie sich den Hut auf dem Kopf zurechtrückte, vermittelte Malta Kano den seltsam greifbaren Eindruck, daß nun ein bestimmter Zeitabschnitt zu Ende gegangen war.
     
    Nachdem Malta Kano gegangen war, blieb ich allein sitzen, ohne an etwas Besonderes zu denken. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich hätte gehen oder was ich hätte tun sollen, wenn ich jetzt aufstünde. Aber natürlich konnte ich nicht ewig dableiben. Als zwanzig Minuten so verstrichen waren, zahlte ich für uns drei und verließ den Tea-room. Keiner der beiden hatte gezahlt.

4
    V ERLUST DER GÖTTLICHEN GNADE
    PROSTITUIERTE DES GEISTES
     
    Zu Hause fand ich im Briefkasten einen dicken Umschlag vor. Es war ein Brief von Leutnant Mamiya. Mein Name und meine Adresse waren mit den gleichen kräftigen, schönen Zeichen geschrieben wie beim letzten Mal. Ich zog mich um, wusch mir das Gesicht und ging in die Küche, wo ich zwei Gläser kaltes Wasser trank. Sobald ich wieder zu Atem gekommen war, schnitt ich den Umschlag auf. Leutnant Mamiya hatte einen Füller benutzt und an die zehn dünne Briefbögen mit winzigen Schriftzeichen gefüllt. Ich überflog die Blätter rasch und steckte sie in das Kuvert zurück. Ich war zu müde, um einen so langen Brief zu lesen; im Moment hätte ich die Konzentration dafür nicht aufgebracht. Als ich den Blick über die Zeilen gleiten ließ, sahen die handgeschriebenen Zeichen wie ein Schwarm merkwürdiger blauer Insekten aus. Und außerdem hallte mir Noboru Watayas Stimme noch immer leise im Kopf nach.
    Ich warf mich auf das Sofa und blieb lange mit geschlossenen Augen liegen, ohne an etwas zu denken. So wie ich mich im Augenblick fühlte, fiel es mir nicht schwer, an nichts zu denken. Um an nichts Bestimmtes zu denken, brauchte ich nur an vielerlei zu denken, immer nur ein bißchen auf einmal: einfach nur einen Augenblick lang an eine Sache zu denken und sie dann ins Leere schnellen zu lassen. Es war fast fünf Uhr nachmittags, als ich mich endlich dazu aufraffte, Leutnant Mamiyas Brief zu lesen. Ich ging auf die Veranda, setzte mich mit dem Rücken gegen einen Pfosten und holte die Blätter aus dem Umschlag. Die ganze erste Seite war mit konventionellen Floskeln gefüllt: jahreszeitlichen Glückwünschen, Danksagungen für die Einladung von neulich und Beteuerungen seines tiefsten Bedauerns, mich mit seinen endlosen Geschichten gelangweilt zu haben. Leutnant Mamiya war ohne Zweifel ein Mann, der die hohe Kunst der Höflichkeit beherrschte. Er stammte noch aus einer Epoche, in der solche Artigkeiten einen größeren Teil des täglichen Lebens ausgemacht hatten. Ich überflog diese Passage rasch und nahm mir die zweite Seite vor:
     
    Entschuldigen Sie bitte die Weitschweifigkeit dieser Einleitung [begann der eigentliche Brief]. Wenn ich Ihnen heute schreibe - wobei ich mir der Anmaßung meines Tuns, durch welches ich Sie mit einer unwillkommenen Mühe belaste, zutiefst bewußt bin - so aus dem alleinigen Zweck, Ihnen zu versichern, daß die Ereignisse, von denen ich Ihnen jüngst erzählte, weder meine Erfindung waren noch die fragwürdigen Reminiszenzen eines alten Mannes, sondern in jeder geschilderten Einzelheit die reine und vollkommene Wahrheit darstellen. Wie Sie wissen, endete der Krieg bereits vor sehr langer Zeit, und die Erinnerung verkümmert natürlich im Laufe der Jahre. Erinnerungen und Gedanken altern ebenso wie die Menschen. Aber bestimmte Gedanken können nicht altern, und bestimmte Erinnerungen können niemals verblassen. Bis zum heutigen Tag sind Sie, Herr Okada, der einzige, dem ich von alldem auch nur ein Wort erzählt habe. In den Ohren der meisten Menschen würden meine Geschichten wie die unglaubwürdigsten Lügengespinste klingen. Die Mehrzahl der Leute

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