Mister Aufziehvogel
an, verrückt zu spielen, und alle möglichen körperlichen Symptome treten auf. In der Vollmondnacht selbst werden dann viele Pferde regelrecht krank, und ein unheimlich hoher Prozentsatz von ihnen stirbt. Warum das so ist, weiß keiner genau, aber die Statistiken beweisen, daß es so ist. In Vollmondnächten kommt kein Pferdearzt zum Schlafen. Da ist dauernd was los.«
»Interessant«, sagte Kumiko.
»Noch schlimmer ist allerdings eine Sonnenfinsternis - für Pferde eine absolute Katastrophe. Du kannst dir nicht im Traum vorstellen, wie viele Pferde am Tag einer totalen Sonnenfinsternis sterben. Aber egal, ich will damit nur sagen, daß genau in dieser Sekunde überall auf der Welt Pferde sterben. Verglichen damit ist es wahrlich keine Tragödie, wenn du deine Frustrationen an jemand anderem ausläßt. Also mach dir darüber keine Gedanken. Denk an die sterbenden Pferde. Stell dir vor, wie sie in irgendeiner Scheune unter dem Vollmond auf dem Stroh liegen und mit Schaum vor dem Maul röchelnd verenden.«
Einen Augenblick lang schien sie sich das wirklich vorzustellen. »Das muß der Neid dir lassen«, sagte sie mit einem Anflug von Resignation, »du könntest wahrscheinlich jedem alles schmackhaft machen.«
»Also schön«, sagte ich. »Dann zieh dich um und laß uns eine Pizza essen gehen.«
In dieser Nacht lag ich im dunklen Schlafzimmer neben Kumiko, starrte an die Decke und fragte mich, wieviel ich von dieser Frau eigentlich wirklich wußte. Der Wecker zeigte 02.00. Sie schlief tief und fest. In der Dunkelheit dachte ich an blaue Papiertücher und gemustertes Klopapier, an Rindfleisch und grüne Paprikaschoten. Ich hatte all die Jahre mit ihr zusammengelebt, ohne auch nur zu ahnen, wie sehr sie diese Dinge haßte. Für sich genommen, waren sie ohne jede Bedeutung. Albernheiten. Dinge, über die man nur lachen konnte, über die man keine drei Worte zu verlieren brauchte. Wir hatten einen kleinen Krach gehabt, und in ein paar Tagen würden wir es schon vergessen haben.
Aber das jetzt war etwas anderes. Es quälte mich auf eine merkwürdige neue Weise, bohrte unablässig in mir wie eine dünne Fischgräte, die einem im Hals steckengeblieben ist. Vielleicht - nur vielleicht - war es weit wichtiger, als es den Anschein gehabt hatte. Vielleicht war’s das: das Ende. Oder vielleicht war es auch nur der Anfang dessen, was das Ende sein würde; und ich stand auf der Schwelle zu etwas wirklich Großem, und darin lag eine Welt, die einzig Kumiko gehörte, eine riesige Welt, die ich nie kennengelernt hatte. Ich stellte sie mir als ein großes dunkles Zimmer vor. Darin stand ich mit einem Feuerzeug in der Hand, dessen schwaches Licht nur den winzigsten Teil des Raums erhellte. Würde ich den Rest jemals sehen? Oder würde ich altern und sterben, ohne sie jemals wirklich gekannt zu haben? Wenn mich das erwartete, was hatte dann die Ehe, die ich da führte, für einen Sinn? Was hatte überhaupt mein Leben für einen Sinn, wenn ich es im Bett neben einer unbekannten Gefährtin verbrachte?
Das waren die Gedanken, die mir in jener Nacht durch den Kopf gingen und die mich noch lange danach von Zeit zu Zeit beschäftigten. Erst viel später erkannte ich, daß ich den Zugang zum Kern des Problems gefunden hatte.
3
M ALTA KANOS HUT
SORBET-TÖNE,
ALLEN GINSBERG UND DIE KREUZRITTER
Ich war gerade beim Vorbereiten des Mittagessens, als wieder einmal das Telefon klingelte. Ich hatte zwei Scheiben Brot geschnitten, sie mit Butter und Senf bestrichen, mit Tomatenscheiben und Käse belegt, das Ganze zusammengeklappt auf das Schneidebrett gelegt und wollte es gerade entzweischneiden, als es klingelte.
Ich ließ das Telefon dreimal klingeln und schnitt das Sandwich durch, dann legte ich es auf einen Teller, wischte das Messer ab, räumte es in die Besteckschublade zurück und goß mir schließlich eine Tasse aufgewärmten Kaffee ein.
Noch immer klingelte das Telefon. Vielleicht fünfzehnmal. Ich gab es auf und nahm ab. Ich wäre am liebsten nicht rangegangen, aber es hätte schließlich Kumiko sein können.
»Hallo«, sagte eine Frauenstimme, die ich noch nie gehört hatte. Es war weder Kumikos Stimme noch die der seltsamen Frau, die mich neulich angerufen hatte, während ich Spaghetti kochte. »Wären Sie so freundlich, mir zu sagen, ob ich möglicherweise mit Herrn Toru Okada verbunden bin?« sagte die Stimme, als ob deren Eigentümerin einen Text vom Blatt abläse.
»Sind Sie«, sagte ich.
»Dem Ehemann von
Weitere Kostenlose Bücher