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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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klingelte, machte ich gerade ein Nickerchen auf der Couch. Im ersten Moment dachte ich, es sei der Wecker. Ich streckte die Hand aus, um auf den Knopf zu drücken, aber es war kein Wecker da. Ich lag nicht im Bett, sondern auf der Couch, und es war nicht Morgen, sondern Nachmittag. Ich stand auf und ging ans Telefon. »Hallo«, sagte ich.
    »Hallo«, sagte eine Frauenstimme. Es war die Frau, die am Vormittag angerufen hatte. »Herr Toru Okada?«
    »Der bin ich. Toru Okada.«
    »Mein Herr, mein Name ist Kano«, sagte sie. »Die Dame, die schon angerufen hat.«
    »Das ist korrekt. Ich fürchte, ich bin schrecklich unhöflich gewesen. Aber sagen Sie, Herr Okada, hätten Sie heute nachmittag möglicherweise Zeit?«
    »So könnte man sagen.«
    »Nun, wäre es dann möglich - ich weiß, es ist schrecklich kurzfristig, aber glauben Sie, es wäre Ihnen unter Umständen möglich, sich mit mir zu treffen?«
    »Wann? Heute? Jetzt?«
    »Ja.« Ich sah auf meine Uhr. Nicht, daß es wirklich nötig gewesen wäre - ich hatte erst dreißig Sekunden vorher darauf geschaut -, aber zur Sicherheit. Und es war immer noch halb drei.
    »Wird es eine längere Angelegenheit werden?« fragte ich. »Nicht allzu lang, denke ich. Allerdings könnte ich mich auch irren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es für mich schwierig, diesbezüglich eine verbindliche Aussage zu machen. Es tut mir leid.«
    Wie lang die Sache auch werden würde, ich hatte keine Wahl. Kumiko hatte mir eingeschärft, zu tun, was die Frau sagte: die Sache sei ernst. Wenn sie sagte, die Sache sei ernst, dann war sie das auch, und ich sollte besser tun, was sie gesagt hatte. »Ich verstehe«, sagte ich. »Wo sollen wir uns treffen?«
    »Ist Ihnen zufällig das Pacific Hotel, gegenüber vom Shinagawa-Bahnhof, ein Begriff?«
    »Zufällig ja.«
    »Im Parterre gibt es einen Tea-room. Wenn es Ihnen recht wäre, würde ich Sie dort um sechzehn Uhr erwarten.«
    »In Ordnung«, sagte ich.
    »Ich bin einunddreißig Jahre alt, und ich werde einen roten Vinylhut tragen.«
    Irre. Es hatte etwas Bizarres an sich, wie diese Frau redete, etwas, was mich vorübergehend verwirrte. Aber ich hätte nicht genau sagen können, was es so bizarr machte. Zudem gab es kein Gesetz, das einunddreißigjährigen Frauen das Tragen von roten Vinylhüten untersagt hätte. »Na gut«, sagte ich. »Ich werde Sie sicherlich finden.«
    »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Herr Okada, wenn Sie mir Ihrerseits irgendwelche besonderen äußeren Kennzeichen nennen wollten, anhand derer ich Sie identifizieren könnte.«
    Ich versuchte, mir irgendwelche »besonderen äußeren Kennzeichen«, die ich haben mochte, einfallen zu lassen. Hatte ich überhaupt welche? »Ich bin dreißig, eins fünfundsiebzig groß, wiege dreiundsechzig Kilo, kurzes Haar, keine Brille.« Noch während ich redete, wurde mir bewußt, daß das schwerlich besondere Kennzeichen darstellten. Im Tea-room des Pacific Hotel konnten ohne weiteres fünfzig Männer sitzen, auf die diese Beschreibung paßte. Ich war schon mal da gewesen, und es war ein großes Etablissement. Sie brauchte schon etwas Auffälligeres. Aber mir fiel nichts ein. Was nicht heißen soll, daß ich keinerlei besondere Kennzeichen gehabt hätte. Ich besaß ein handsigniertes Exemplar von Miles Davis’ Sketches of Spain. Ich hatte eine niedrige Ruhe-Pulsfrequenz: normalerweise siebenundvierzig und selbst bei hohem Fieber nie über siebzig. Ich war arbeitslos. Ich kannte die Namen aller Brüder Karamasow. Aber keines dieser besonderen Kennzeichen war äußerlich.
    »Wie werden Sie voraussichtlich gekleidet sein?« fragte sie. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich hab noch nicht darüber nachgedacht. Das kommt alles so plötzlich.«
    »Dann kommen Sie bitte mit einer gepunkteten Krawatte«, sagte sie bestimmt. »Halten Sie es für möglich, daß Sie eine gepunktete Krawatte besitzen?«
    »Ich denke schon«, sagte ich. Ich hatte einen marineblauen Schlips mit kleinen cremefarbenen Pünktchen. Kumiko hatte ihn mir vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt.
    »Dann haben Sie doch bitte die Freundlichkeit, sie zu tragen«, sagte sie. »Danke, daß Sie sich bereit erklärt haben, sich um sechzehn Uhr mit mir zu treffen.« Und sie hängte ein.
     
    Ich öffnete den Kleiderschrank und suchte nach meinem gepunkteten Schlips. Auf dem Krawattenhalter war er nicht. Ich sah in allen Schubladen nach. Ich sah im Wandschrank in allen Kartons nach. Kein gepunkteter Schlips. Es war absolut nicht

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