Mister Aufziehvogel
kaum Lust zu essen. Eher war ich sogar ein wenig angewidert. Dennoch aß ich, um den Schmerz in meinem leeren Magen zu betäuben, nach den Cornflakes noch ein paar Kräcker. Sie weckten nicht im mindesten meinen Appetit. Ich ging ins Bad, zog mich nackt aus und stopfte alle meine Sachen in die Waschmaschine. Dann stellte ich mich unter die heiße Dusche, schrubbte mich von Kopf bis Fuß und wusch mir die Haare. Kumikos Nylon-Duschhaube hing noch immer an der Wand. Ihr besonderes Shampoo war da, ihre Pflegespülung und die Plastikbürste, die sie beim Haarewaschen benutzte. Ihre Zahnbürste. Ihre Zahnseide. Alles sah noch genauso aus, wie bevor sie gegangen war. Die einzige Veränderung, die ihre Abwesenheit bewirkte, war diese eine schlichte Tatsache: Kumiko war nicht mehr da.
Ich stellte mich vor den Spiegel und musterte mein Gesicht. Es war mit schwarzen Stoppeln bedeckt. Nach kurzem Zögern beschloß ich, mich nicht zu rasieren Wenn ich mich jetzt rasierte, würde ich mich wahrscheinlich schneiden. Bis morgen früh konnte ich damit auf jeden Fall warten; ich brauchte niemanden zu sehen. Ich putzte mir die Zähne, spülte mir mehrmals den Mund und verließ das Bad. Dann öffnete ich eine Bierdose, holte Tomaten und Kopfsalat aus dem Kühlschrank und machte mir einen Salat. Nachdem ich den gegessen hatte, begann ich, ein gewisses Bedürfnis nach mehr zu verspüren, also holte ich mir Kartoffelsalat heraus, verteilte ihn zwischen zwei Scheiben Brot und aß das. Ich sah nur ein einzigesmal auf die Uhr. Wie viele Stunden war ich unten im Brunnen gewesen? Doch beim bloßen Gedanken an Zeit bekam ich rasende Kopfschmerzen. Nein, ich wollte nicht an Zeit denken. Die Zeit war etwas, worüber ich im Augenblick auf keinen Fall nachdenken wollte.
Ich ging auf die Toilette und pinkelte lange mit geschlossenen Augen; es wollte überhaupt nicht mehr aufhören. Ich befürchtete schon, ich könnte im Stehen ohnmächtig werden. Dann ging ich ins Wohnzimmer, legte mich aufs Sofa und starrte zur Decke. Es war ein höchst sonderbares Gefühl: Mein Körper war müde, aber mein Geist war hellwach. Ich fühlte mich nicht im geringsten schläfrig.
Plötzlich fiel mir ein, ich sollte im Briefkasten nachsehen. Jemand konnte mir geschrieben haben, während ich im Brunnen saß. Ich ging zur Haustür und stellte fest, daß ein Brief gekommen war. Auf dem Umschlag stand kein Absender, aber die Handschrift vorn war eindeutig die von Kumiko: kleine, mit äußerster Sorgfalt ausgeführte - fast gemalte - Schriftzeichen, mit großer Sorgfalt aneinandergereiht wie zu einem Muster. Eine zeitaufwendige Art zu schreiben, aber sie konnte es nicht anders. Ich sah sofort nach dem Poststempel. Er war verschmiert und kaum leserlich, aber es gelang mir, das Zeichen taka und möglicherweise noch matsu zu entziffern. Takamatsu in der Kagawa-Präfektur? Soweit ich wußte, kannte Kumiko niemanden in Takamatsu. Wir waren noch nie dort gewesen, und sie hatte auch nie davon erzählt, daß sie die Fähre nach Shikoku genommen habe oder über die neue Brücke gefahren sei. Von Takamatsu war in keinem unserer Gespräche je die Rede gewesen. Vielleicht hieß es doch nicht Takamatsu. Jedenfalls ging ich mit dem Brief in die Küche, setzte mich an den Tisch und öffnete den Umschlag mit der Schere - vorsichtig, um die Blätter darin nicht zu zerschneiden. Um mich zu beruhigen, trank ich einen Schluck von dem Bier, das noch übrig war.
» Es muß ein Schock für Dich gewesen sein, als ich so plötzlich und ohne ein Wort verschwunden bin «, hatte Kumiko mit ihrer gewohnten blauschwarzen Montblanc-Tinte geschrieben. Das Papier war das dünne Standard-Briefpapier, das es überall zu kaufen gab.
Ich wollte Dir eigentlich schon früher schreiben und alles der Reihe nach erklären, aber ich habe viel darüber nachgegrübelt, wie ich meine Gefühle am besten ausdrücken und Dir meine Situation begreiflich machen könnte, und so verging die Zeit. Ich habe deswegen ein sehr schlechtes Gewissen Dir gegenüber.
Mittlerweile ahnst Du vielleicht, daß ich mich mit einem Mann traf. Ich hatte mit ihm ein sexuelles Verhältnis, das fast drei Monate dauerte. Er war jemand, den ich durch meine Arbeit kennengelernt hatte, jemand, den Du überhaupt nicht kennst. Es spielt auch kaum eine Rolle, wer er war. Ich werde ihn nie wiedersehen. Zumindest für mich ist es vorbei. Vielleicht ist Dir das ein gewisser Trost. Oder auch nicht. War ich in ihn verliebt? Diese Frage kann ich
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