Mister Aufziehvogel
Sieben nach eins in der Nacht natürlich Soviel verrieten mir die Sterne, die hoch über mir funkelten. Ich streifte mir den Rucksack über, holte einmal tief Atem und machte mich an den Aufstieg Die wackelige Strickleiter war schwierig zu erklimmen. Bei jeder Anstrengung knirschte und jammerte jeder Muskel, jeder Knochen und jedes Gelenk in meinem Körper. Ich tat einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen, und bald lag in der Luft, die mich umgab, ein Hauch von Wärme, dann ein deutlicher Duft nach Gras. Nun erreichten mich die Laute von Insekten. Ich bekam die Kante der Brunnenumrandung zu fassen, und mit einer letzten Anstrengung stemmte ich mich hoch und kollerte fast auf die weiche Oberfläche der Erde. Das war’s: Ich war wieder oben. Eine Zeitlang blieb ich einfach auf dem Rücken liegen und dachte an nichts. Ich sah hinauf in den Himmel und sog unersättlich die Luft tief in meine Lungen - die dichte, lauwarme Luft einer Sommernacht, frisch nach Leben duftend. Ich konnte die Erde riechen, das Gras riechen. Der Geruch allein erzeugte das Gefühl, meine Handflächen würden sanft die Erde und das Gras berühren. Ich hätte sie am liebsten mit beiden Händen gepackt und verschlungen. Am Himmel waren nun keine Sterne mehr zu sehen: nicht ein einziger. Sichtbar waren die Sterne nur vom Grund eines Brunnens aus. Da oben am Himmel hing einzig ein fast voller, fettleibiger Mond.
Wie lange ich da liegenblieb, hätte ich nicht sagen können. Lange tat ich nichts anderes, als auf meinen Herzschlag zu lauschen. Ich hatte das Gefühl, ich könnte ewig so weiterleben, ohne etwas anderes zu tun, als meinem Herzschlag zu lauschen. Doch schließlich erhob ich mich vom Boden und sah mich um. Es war niemand da. Der Garten dehnte sich in die Nacht, und die Vogelplastik starrte wie immer in den Himmel. In May Kasaharas Haus war es völlig dunkel. Lediglich eine Quecksilberdampflampe brannte in ihrem Garten und warf ihr fahles, ausdrucksloses Licht bis zu der ausgestorbenen Gasse. Wohin konnte Kreta Kano nur verschwunden sein?
Jedenfalls war das Vordringlichste jetzt, nach Hause zu gehen - nach Hause zu gehen, etwas zu trinken, etwas zu essen und mich schön lang unter die Dusche zu stellen. Wahrscheinlich stank ich entsetzlich. Als allererstes mußte ich diesen Geruch loswerden. Dann mußte ich etwas in meinen leeren Magen bekommen. Alles andere konnte warten.
Ich nahm den gewohnten Weg nach Hause, aber die Gasse kam mir verändert vor, fremd. Vielleicht wegen dieses seltsam nackten Mondlichts stachen die Anzeichen von Stagnation und Verfall ungewohnt deutlich hervor, und ich roch etwas wie das verwesende Fleisch toter Tiere und ganz eindeutig den Gestank von Kot und Urin. In vielen Häusern waren die Leute noch auf und unterhielten sich oder aßen, während der Fernseher lief. Aus einem Fenster trieb der Geruch von fettigem Essen heran und stiftete in meinem Magen und Hirn Unheil. Ich kam an einer ächzenden Klimaanlage vorbei und bekam einen Schwall lauwarmer Luft ab. Ich hörte das Geräusch einer Dusche und sah in einem Badezimmerfenster den verschwommenen Schatten eines Körpers.
Es gelang mir, mich an der Mauer hinter meinem Haus hochzuziehen, und ich ließ mich in den Garten fallen. Von hier aus sah das Haus pechschwarz aus; fast schien es den Atem anzuhalten. Es verströmte keinerlei Wärme oder Geborgenheit mehr. Es sollte das Haus sein, in dem ich tagein, tagaus mein Leben lebte, doch jetzt war es nur ein leeres Gebäude ohne jede Spur von Menschlichkeit. Wenn ich allerdings überhaupt ein Zuhause hatte, in das ich zurückkehren konnte, dann war es hier.
Ich stieg auf die Veranda und schob die Glastür auf. Die so lange eingeschlossene Luft war schwer und abgestanden. Es roch nach einer Mischung aus überreifem Obst und Insektenspray. Der Zettel, den ich auf dem Küchentisch zurückgelassen hatte, lag noch immer da. Das Geschirr, das ich gespült hatte, befand sich noch in derselben Anordnung auf dem Abtropfgestell. Ich nahm daraus ein Glas, füllte es immer wieder mit Leitungswasser und trank und trank. Der Kühlschrank hatte nichts Besonderes zu bieten - eine zufällige Ansammlung von Resten und angebrochenen Lebensmitteln: Eier, Schinken, Kartoffelsalat, Auberginen, Kopfsalat, Tomaten, Tofu, Frischkäse, Milch. Ich schüttete Cornflakes in einen Napf, goß etwas Milch darüber und aß. Ich hätte einen wölfischen Hunger haben müssen, aber beim Anblick der realen Lebensmittel im Kühlschrank verspürte ich
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