Mister Aufziehvogel
in meinem ganzen Leben noch nie etwas angefühlt. Nein, so einfach war es nicht: Es fühlte sich nicht nur gut an. Mein Körper wälzte sich in heißem Schlamm. Meine Seele sog sich mit Wollust voll, bis sie fast explodierte - und dann explodierte sie wirklich. Es war ein Wunder, eines der wundervollsten Dinge, die mir je passiert sind. Und dann habe ich es, wie Du weißt, die ganze Zeit geheimgehalten. Du hast nie gemerkt, daß ich ein Verhältnis hatte. Du hast mir nie mißtraut, nicht einmal, als ich spät heimzukommen begann. Ich hin sicher, daß Du mir völlig vertraut hast. Du glaubtest, ich könnte Dir nie untreu werden. Und daß ich Dein Vertrauen so schmählich mißbrauchte, bereitete mir keinerlei Schuldgefühle. Ich rief Dich vom Hotelzimmer aus an und sagte, ich würde mich der Arbeit wegen verspäten. Ich häufte eine Lüge auf die andere, aber darunter litt ich nicht. Es kam mir wie die natürlichste Sache der Welt vor. Mein Herz brauchte das Leben mit Dir. Das Zuhause, das ich mit Dir teilte, war der Ort, an den ich gehörte. Es war die Welt, zu der ich gehörte. Mein Körper aber hatte dieses unüberwindliche Bedürfnis nach Sex mit ihm. Ich war zur Hälfte hier und zur Hälfte dort. Ich wußte, daß irgendwann zwangsläufig der Bruch käme, aber einstweilen hatte ich das Gefühl, dieses Doppelleben werde ewig so weitergehen. Hier führte ich mit Dir ein friedliches Leben, dort hatte ich mit ihm besinnungslosen Sex. Ich möchte, daß Du zumindest eines begreifst. Es hatte nie etwas damit zu tun, daß Du etwa ein schlechterer Liebhaber als er oder sexuell nicht anziehend gewesen wärst, oder daß es mir langweilig geworden wäre, mit Dir zu schlafen. Es war einfach so, daß mein Körper während jener Zeit diesen heftigen, unüberwindlichen Hunger verspürte. Es war mir unmöglich, ihm zu widerstehen. Warum solche Dinge passieren, weiß ich nicht; ich kann nur sagen, daß es passiert ist. Während der Wochen, die das Verhältnis dauerte, dachte ich ein paarmal daran, auch mit Dir zu schlafen. Es erschien mir Dir gegenüber unfair, daß ich mit ihm schlief und mit Dir nicht. Aber ich hatte aufgehört, in Deinen Armen auch nur das geringste zu empfinden. Du mußt es gemerkt haben. Fast zwei Monate lang habe ich mir alle möglichen Ausreden ausgedacht, um jeden sexuellen Kontakt mit Dir zu vermeiden.
Eines Tages aber bat er mich. Dich seinetwegen zu verlassen. Wir paßten so gut zusammen, meinte er, daß kein Grund bestünde, warum wir nicht zusammenleben sollten. Er werde seine Familie verlassen, sagte er. Ich bat ihn um Bedenkzeit. Aber als ich später an jenem Abend im Zug saß und auf dem Weg nach Hause war, wurde mir klar, daß ich für ihn nichts mehr empfand. Ich verstehe es selbst nicht, aber in dem Augenblick, als er mich bat, bei ihm zu bleiben, verschwand dieses besondere Etwas in mir, als sei ein starker Wind aufgekommen und habe es weggeblasen. Mein Verlangen nach ihm war spurlos verschwunden.
Damit fingen meine Schuldgefühle Dir gegenüber an. Nichts dergleichen hatte ich, wie gesagt, empfunden, solange dieses brennende Verlangen nach ihm in mir gewesen war, meine einzige Empfindung war Freude darüber gewesen, daß Du von alldem nichts merktest. Ich dachte, ich könnte mir alles erlauben, solange Du nichts davon mitbekämst. Meine Beziehung zu ihm gehörte zu einer völlig anderen Welt als meine Beziehung zu Dir. Als mein Verlangen jedoch verflog, wußte ich nicht mehr, wo ich war. Ich habe mich von jeher für einen ehrlichen Menschen gehalten. Sicher, ich habe meine Fehler. Aber wo es um wichtige Dinge ging, hatte ich noch nie jemanden belogen oder mir selbst etwas vorgemacht. Ich hatte Dir noch nie etwas verheimlicht; darauf war ich immer ein wenig stolz gewesen. Aber dann habe ich Dir, ohne eine Spur von Schuldgefühlen zu empfinden, monatelang diese fatalen Lügen erzählt. Und diese Tatsache begann mich zu quälen. Sie gab mir das Gefühl, ein hohler, bedeutungsloser, nichtswürdiger Mensch zu sein. Was ich wahrscheinlich auch wirklich bin. Aber da ist noch etwas anderes, was mir noch immer zu schaffen macht, nämlich: Wie kam ich plötzlich dazu, ein so heftiges, abnormes sexuelles Verlangen nach einem Mann zu verspüren, den ich nicht einmal liebte? Das kann ich einfach nicht begreifen. Wäre dieses Verlangen nicht gewesen, würde ich noch immer mein glückliches Leben mit Dir führen. Und dieser Mann wäre noch immer ein netter Bekannter, mit dem man gelegentlich ein bißchen
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