Mister Aufziehvogel
Wortschatz keine andere Bezeichnung als »Traum« enthielt - mit Frauen sexuelle Kontakte gehabt: mit Kreta Kano und mit der Telefonfrau. Aber es war nun, wo ich darüber nachdachte, zwei Monate her, daß ich zuletzt mit einer wirklichen Frau in der wirklichen Welt geschlafen hatte. Auf dem Sofa ausgestreckt, starrte ich auf meine über der Brust gefalteten Hände und dachte an das letzte Mal, als ich Kumikos Körper gesehen hatte. Ich dachte an die weiche Kurve ihres Rückens, als ich den Reißverschluß ihres Kleides hochgezogen hatte, und an den Duft von Eau de Toilette hinter ihren Ohren. Wenn allerdings das, was sie in ihrem Brief schrieb, die unumstößliche Wahrheit war, dann würde ich wahrscheinlich nie wieder mit Kumiko schlafen. Sie hatte es mit solcher Entschiedenheit und Unwiderruflichkeit gesagt: wie konnte es da anderes sein als die unumstößliche Wahrheit?
Je länger ich über die Möglichkeit nachdachte, daß meine Beziehung zu Kumiko endgültig der Vergangenheit angehörte, desto mehr begann ich, die sanfte Wärme dieses Körpers zu vermissen, der mir einst gehört hatte. Ich hatte es immer schön gefunden, mit ihr zu schlafen. Natürlich hatte ich es schön gefunden, bevor wir geheiratet hatten, aber selbst nachdem ein paar Jahre vergangen waren und die anfängliche Erregung sich ein wenig gelegt hatte, hatte ich den Sex mit Kumiko weiterhin sehr genossen. Ihr schlanker Rücken, ihr Nacken, ihre Beine, ihre Brüste - ich konnte mich lebhaft erinnern, wie jede Partie von ihr sich angefühlt hatte. Ich konnte mich an alles erinnern, was ich für sie und sie für mich während unserer sexuellen Vereinigungen getan hatten.
Nun hatte Kumiko ihren Körper jedoch mit dem eines mir unbekannten Mannes vereinigt - und das mit einer Leidenschaftlichkeit, die ich mir kaum vorstellen konnte. Sie hatte eine Lust entdeckt, die ihr der Sex mit mir nie hatte geben können. Während sie es mit ihm tat, hatte sie sich wahrscheinlich so gekrümmt und gewunden, daß das Bett gebebt hatte, und hatte so laut gestöhnt, daß man sie im Nebenzimmer hören konnte. Sie hatte mit ihm wahrscheinlich Dinge getan, die sie mit mir nie getan hätte. Ich ging zum Kühlschrank, holte mir ein Bier heraus und trank es. Dann aß ich ein bißchen Kartoffelsalat. Da mir nach Musik war, schaltete ich das Radio ein und wählte einen Klassiksender. Den Ton stellte ich leise. »Ich bin heute so müde«, hatte Kumiko etwa gesagt, »ich bin einfach nicht in der Stimmung. Tut mir leid. Ehrlich.« Und ich hatte geantwortet: »Ist schon okay, kein Problem.« Als Tschaikowskys Serenade für Streicher geendet hatte, brachten sie ein kleines Stück, das nach Schumann klang. Es kam mir bekannt vor, aber ich konnte mich nicht an den Titel erinnern. Als es vorbei war, sagte die Sprecherin, es sei die Nummer sieben aus Schumanns Waldszenen gewesen, betitelt »Vogel als Prophet«. Ich stellte mir vor, wie Kumiko unter dem anderen Mann die Hüften kreisen ließ, die Beine anzog, die Fingernägel in seinen Rücken bohrte, das Laken besabberte. Die Radiosprecherin erläuterte, Schumann habe eine phantastische Szene um einen geheimnisvollen Vogel geschaffen, der im Wald lebt und die Zukunft voraussagt.
Was hatte ich je über Kumiko gewußt? Ich quetschte die Bierdose geräuschlos in der Faust zusammen und warf sie in den Müll. Konnte es wahr sein, daß die Kumiko, die ich zu verstehen geglaubt hatte, die Kumiko, die ich in den Armen gehalten und mit der ich in all den Jahren unserer Ehe immer wieder meinen Körper vereinigt hatte - daß diese Kumiko nicht mehr als die oberflächlichste Schicht der Person Kumiko gewesen war, gerade so, wie der größere Teil dieser Welt in Wirklichkeit dem Reich der Quallen angehört? Und falls ja, was war mit diesen sechs Jahren, die wir miteinander verbracht hatten? Was waren sie gewesen? Was hatten sie bedeutet?
Ich las Kumikos Brief gerade ein weiteres Mal, als das Telefon klingelte. Bei dem Geräusch sprang ich wie gestochen vom Sofa auf. Wer konnte bloß um zwei Uhr nachts anrufen? Kumiko? Nein, sie würde nie hier anrufen. Wahrscheinlich May Kasahara. Sie hatte mich aus dem Garten des leerstehenden Hauses herauskommen sehen und beschlossen, sich bei mir zu melden. Oder möglicherweise auch Kreta Kano; sie wollte erklären, warum sie verschwunden war. Es konnte die Telefonfrau sein. Vielleicht wollte sie mir irgendeine Botschaft übermitteln. May Kasahara hatte recht gehabt: Ich hatte wirklich eine Spur zu viele
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