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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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meinem Leben verschwinden. Ich hatte keinen bestimmten Grund, das zu denken; es war nur ein Gefühl, das mich überkam.
     
    Plötzlich fiel mir die Strickleiter ein. Ich hatte sie im Brunnen hängenlassen. Wahrscheinlich wäre es das Klügste, sie so schnell wie möglich zurückzuholen. Wenn jemand sie da fand, konnte es Probleme geben. Und dann war da noch Kreta Kanos plötzliches Verschwinden - zuletzt hatte ich sie am Brunnen gesehen. Ich steckte die Taschenlampe ein, zog Schuhe an, stieg hinunter in den Garten und kletterte erneut über die Mauer. Dann folgte ich der Gasse bis zum leerstehenden Haus. May Kasaharas Haus war stockdunkel. Nach meiner Uhr ging es auf drei zu. Ich betrat den Garten des verlassenen Hauses und ging geradewegs zum Brunnen. Die Strickleiter war noch immer unten am Baumstamm verankert und hing in den Brunnen hinab, der noch halb aufgedeckt war. Etwas bewegte mich dazu, in den Brunnen hineinzuspähen und in einer Art Bühnenflüstern Kreta Kanos Namen zu rufen. Es kam keine Antwort. Ich zog die Taschenlampe heraus und leuchtete in den Schacht. Der Strahl reichte nicht bis zum Grund hinunter, aber ich hörte ein ganz leises Stöhnen. Ich rief noch einmal. »Schon gut, ich bin hier«, sagte Kreta Kano.
    »Was in aller Welt tun Sie denn bloß nur an so einem Ort?« fragte ich leise. »Was ich tue? Das gleiche, was Sie hier getan haben, Herr Okada«, erwiderte sie, hörbar erstaunt. »Ich denke nach. Es ist wirklich ein idealer Ort zum Nachdenken, nicht war?«
    »Tja, ist es wohl«, sagte ich. »Aber Ihre Schwester hat vorhin bei mir angerufen. Sie macht sich große Sorgen um Sie. Es ist mitten in der Nacht, und Sie sind noch immer nicht zu Hause, und sie sagt, daß sie Ihre Präsenz nicht spüren kann. Ich soll Sie bitten, sich sofort mit ihr in Verbindung zu setzen, falls ich etwas von Ihnen höre.«
    »Ich verstehe. Nun, danke, daß Sie sich hierherbemüht haben.«
    »Nicht der Rede wert, Kreta Kano. Könnten Sie mir den Gefallen tun, da rauszukommen? Ich muß mit Ihnen sprechen.« Sie gab keine Antwort.
    Ich knipste die Taschenlampe aus und steckte sie wieder ein. »Warum kommen Sie nicht hier herunter, Herr Okada? Wir könnten hier beide gemütlich sitzen und reden.«
    Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, dachte ich, wieder hinunterzuklettern und mit Kreta Kano zu reden, aber dann dachte ich an die modrige Dunkelheit auf dem Grund des Brunnens und bekam ein beklommenes Gefühl im Magen. »Nein, tut mir leid, aber ich steige da nicht wieder runter. Und Sie sollten auch besser rauskommen. Jemand könnte wieder die Leiter raufziehen. Und die Luft ist verbraucht.«
    »Ich weiß. Aber ich möchte noch ein Weilchen hier unten bleiben. Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen.«
    Solange Kreta Kano nicht gedachte, aus dem Brunnen herauszukommen, konnte ich gar nichts unternehmen.
    »Als ich mit Ihrer Schwester am Telefon gesprochen habe, habe ich ihr nicht gesagt, daß ich Sie hier gesehen hatte. Ich hoffe, das war richtig so. Ich hatte irgendwie das Gefühl, es wäre besser, nichts zu sagen.«
    »Das war richtig«, sagte Kreta Kano. »Sagen Sie meiner Schwester bitte nicht, daß ich hier bin.« Nach einem Augenblick fügte sie hinzu: »Ich möchte nicht, daß sie sich meinetwegen Sorgen macht, aber manchmal brauche auch ich eine Gelegenheit nachzudenken. Ich komme heraus, sobald ich fertig bin. Und jetzt wäre ich gern allein, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich werde Ihnen keinerlei Ungelegenheiten bereiten.«
    Ich beschloß, sie vorerst allein zu lassen und wieder nach Hause zu gehen. Ich konnte ja am Morgen zurückkommen und nach ihr schauen. Sollte May Kasahara im Laufe der Nacht die Leiter noch einmal heraufziehen, würde ich schon eine Möglichkeit finden, Kreta Kano aus dem Brunnen herauszuhelfen. Ich ging nach Hause, zog mich aus und legte mich ins Bett. Ich nahm das Buch, das ich zuletzt gelesen hatte, und schlug die Seite auf, bis zu der ich gekommen war. Ich meinte, ich sei viel zu aufgedreht, um sofort einschlafen zu können, aber noch ehe ich zwei Seiten gelesen hatte, merkte ich, daß ich eindöste. Ich klappte das Buch zu, schaltete das Licht aus und war im nächsten Moment fest eingeschlafen.
    Als ich aufwachte, war es halb zehn vormittags. Besorgt um Kreta Kano, zog ich mich an, ohne mir erst das Gesicht zu waschen, und lief durch die Gasse zu dem leerstehenden Haus. Die Wolken hingen tief am Himmel, und die feuchte Morgenluft schien baldigen Regen anzukündigen. Die

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