Mister Aufziehvogel
tun konnte, war abzuwarten. Zu einem Arzt konnte ich immer noch gehen. Vielleicht war es ja etwas Vorübergehendes, das von selbst wieder heilen würde, wie ein Lackausschlag. Es war binnen weniger Tage entstanden, also konnte es auch ebensoschnell wieder verschwinden. Ich ging in die Küche und kochte mir Kaffee. Ich hatte Hunger, aber jedesmal, wenn ich versuchte, etwas zu essen, verflüchtigte sich mein Appetit wie das Wasser einer Fata Morgana.
Ich legte mich aufs Sofa und sah dem Regen zu, der inzwischen eingesetzt hatte. Von Zeit zu Zeit ging ich ins Bad und sah in den Spiegel, konnte aber keine Veränderung feststellen. Das Mal hatte diesen Bereich meiner Wange mit einem tiefen, dunklen - fast schönen - Blau durchdrungen.
Ich konnte mir nur eine einzige Ursache für diese seltsame Erscheinung vorstellen: meinen Gang durch die Wand, an der Hand der Telefonfrau, am Ende meiner traumähnlichen Halluzination im Brunnen vor Tagesanbruch. Die Frau hatte mich durch die Wand gezogen, um uns vor dem gefährlichen Jemand in Sicherheit zu bringen, der die Tür geöffnet hatte und im Begriff war, das Zimmer zu betreten. In dem Moment, als ich durch die Wand gegangen war, hatte ich Hitze an der Wange verspürt - an genau der Stelle, wo ich jetzt dieses Mal hatte. Natürlich war damit noch lange nicht geklärt, welcher ursächliche Zusammenhang zwischen meinem Durch-die-Wand-Gehen und dem Entstehen eines Mals auf meinem Gesicht bestehen sollte.
Der Mann ohne Gesicht hatte mich im Hotelfoyer angesprochen. »Das ist der falsche Zeitpunkt«, hatte er mich gewarnt. »Sie haben hier jetzt nichts zu suchen.« Aber ich hatte seine Warnung ignoriert und war weitergegangen. Ich war wütend auf Noboru Wataya, wütend über meine Verwirrung. Und daß ich dieses Mal bekommen hatte, war vielleicht die Folge davon.
Vielleicht war das Mal ein Zeichen, das mir dieser seltsame Traum, oder was immer es gewesen sein mochte, eingebrannt hatte. Das war kein Traum, sagte man mir durch das Mal: Es ist wirklich passiert. Und von nun an wirst du jedesmal, wenn du in den Spiegel schaust, gezwungen sein, dich daran zu erinnern. Ich schüttelte den Kopf. Zu viele Dinge blieben ungeklärt. Das einzige, was ich wirklich begriff, war, daß ich nichts begriff. In meinem Kopf setzte ein dumpfer, pochender Schmerz ein. Ich konnte nicht mehr denken. Ich verspürte nicht den geringsten Drang, irgend etwas zu tun. Ich trank einen Schluck lauwarmen Kaffee und sah weiter dem Regen zu.
An jenem Nachmittag rief ich meinen Onkel an, um ein bißchen zu plaudern. Ich mußte mit jemandem reden - egal, mit wem -, um etwas gegen dieses Gefühl zu unternehmen, daß ich aus der wirklichen Welt herausgerissen wurde.
Als er fragte, wie es Kumiko gehe, sagte ich, gut, und ließ es dabei bewenden. Sie sei auf einer kurzen Geschäftsreise, fügte ich hinzu. Ich hätte ihm erzählen können, was wirklich passiert war, aber die Ereignisse der letzten Zeit in eine für einen Außenstehenden nachvollziehbare Ordnung zu bringen, wäre mir unmöglich gewesen. Ich konnte sie nicht einmal selbst ganz nachvollziehen - wie sollte ich sie da jemand anderem erklären? Ich beschloß, meinem Onkel die Wahrheit vorläufig zu verschweigen.
»Du hast doch früher in diesem Haus hier gewohnt, nicht?« fragte ich. »Sicher«, sagte er. »Sechs oder sieben Jahre lang. Wart mal … gekauft habe ich es mit fünfunddreißig, und ich habe da gewohnt, bis ich zweiundvierzig war. Sieben Jahre. Nach meiner Heirat bin ich in diese Eigentumswohnung umgezogen. Dort habe ich die ganze Zeit allein gewohnt.«
»Ich hab mich nur gerade gefragt - ist dir, während du hier gewohnt hast, irgend etwas Schlimmes passiert?«
»Etwas Schlimmes? Wie zum Beispiel was?«
»Wie zum Beispiel, daß du krank geworden bist oder daß du dich von einer Frau getrennt hast oder so.«
Mein Onkel brach in herzhaftes Gelächter aus. »Ich habe mich von mehr als nur einer Frau getrennt, soviel ist sicher. Aber nicht bloß, solange ich da gewohnt habe. Nein, so was würde ich auch nicht als etwas besonders Schlimmes bezeichnen. War keine dabei, um die’s mir leid getan hätte, wenn ich ehrlich sein soll. Was Krankheiten angeht … hmm. Nein, ich glaube nicht. Ich habe mir eine kleine Wucherung am Nacken entfernen lassen, aber das ist so ziemlich alles, woran ich mich erinnern kann. Der Friseur hatte sie entdeckt und gemeint, ich sollte sie mir zur Sicherheit wegmachen lassen. Also bin ich zum Arzt gegangen, aber es
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