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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Herr Okada, dürfte ich Sie wohl fragen, ob Ihnen im Laufe der letzten Tage irgendeine größere physische Veränderung aufgefallen ist?«
    »Eine physische Veränderung? An mir?«
    »Ja, Herr Okada. Irgendeine Veränderung an Ihrem Körper.« Ich hob das Gesicht und musterte mein Spiegelbild in der Glasscheibe der Verandatür, aber ich konnte nichts erkennen, was man eine körperliche Veränderung hätte nennen können. Unter der Dusche hatte ich mich sehr gründlich von oben bis unten abgeschrubbt, aber auch da war mir nichts aufgefallen. »An was für eine Veränderung dachten Sie denn?«
    »Ich habe keine Ahnung, um was es sich handeln könnte, aber es müßte eigentlich jedem, der Sie sieht, ins Auge springen.«
    Ich legte meine linke Hand offen auf den Tisch und starrte die Innenseite an, aber es war meine gewohnte Handfläche. Sie hatte sich in keiner für mich erkennbaren Weise verändert. Weder war sie auf einmal mit Blattgold überzogen, noch waren zwischen den Fingern Schwimmhäute gewachsen. Sie war weder schön noch häßlich. »Was meinen Sie damit: es müßte jedem, der mich sieht, ins Auge springen? So etwas wie Flügel, die mir aus dem Rücken sprießen?«
    »Es könnte etwas in der Art sein«, sagte Malta Kano in ihrem gewohnt ruhigen Ton. »Natürlich wäre das nur eine von vielen Möglichkeiten.«
    »Natürlich«, sagte ich.
    »Nun, ist Ihnen eine solche Veränderung aufgefallen?«
    »Eigentlich nicht. Jedenfalls bis jetzt noch nicht. Ich meine, wenn mir auf einmal Flügel gewachsen wären, müßte ich es ja wohl bemerken, meinen Sie nicht?«
    »Natürlich«, sagte Kreta Kano. »Aber seien Sie vorsichtig, Herr Okada. Den eigenen Zustand zu erkennen, ist nicht so einfach. Man kann sich zum Beispiel nicht mit den eigenen Augen direkt ins Gesicht sehen. Man hat keine andere Wahl, als sich im Spiegel sein Spiegelbild anzusehen. Aus Gewohnheit glauben wir, das Abbild entspreche der Wirklichkeit, aber das ist auch alles.«
    »Ich werde vorsichtig sein«, sagte ich.
    »Da wäre noch etwas, wonach ich Sie gern fragen würde, Herr Okada. Seit einiger Zeit gelingt es mir nicht mehr, den Kontakt zu meiner Schwester Kreta herzustellen - genauso, wie ich den Kontakt zu Ihnen verloren hatte. Es mag ein Zufall sein, aber ich finde es sehr sonderbar. Und so habe ich mich gefragt, ob Ihnen möglicherweise etwas über die Hintergründe davon bekannt ist.«
    »Kreta Kano?«
    »Ja«, sagte Malta Kano. »Fällt Ihnen in diesem Zusammenhang irgend etwas ein?«
    Nein, sagte ich, mir fiele nichts ein. Ich hätte keinen konkreten Grund dafür angeben können, aber ich hatte das Gefühl, es wäre vorläufig besser, Malta Kano nichts davon zu sagen, daß ich erst vor kurzem mit Kreta Kano persönlich gesprochen hatte und daß sie unmittelbar danach verschwunden war. Es war nur so ein Gefühl.
    »Kreta machte sich Sorgen, weil der Kontakt zu Ihnen abgerissen war, Herr Okada. Gestern abend ging sie aus und sagte, sie wolle Ihr Haus aufsuchen und sehen, was sie dort herausfinden könne, aber sie ist noch immer nicht zurück, trotz der späten Stunde. Und aus irgendeinem Grund spüre ich ihre Präsenz nicht mehr.«
    »Ich verstehe. Falls sie hier vorbeikommen sollte, sage ich ihr also, sie möge sich sofort mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte ich.
    Malta Kano blieb eine Zeitlang stumm. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Herr Okada, ich mache mir um Kreta Sorgen. Wie Sie wissen, fällt unsere Arbeit durchaus aus dem Rahmen des Gewöhnlichen. Aber Kreta ist in den Regeln jener Welt nicht so bewandert wie ich. Womit ich nicht sagen will, sie sei nicht begabt. Im Gegenteil, sie ist sogar sehr begabt, Aber sie ist an ihre Gabe noch nicht ganz akklimatisiert.«
    »Ich verstehe.«
    Wieder schwieg Malta Kano. Dieses Schweigen dauerte länger als das vorige. Ich spürte eine gewisse Unentschlossenheit bei ihr.
    »Hallo, sind Sie noch da?« fragte ich. »Ja, Herr Okada, ich bin noch da«, erwiderte sie.
    »Wenn ich Kreta sehe, sage ich ihr ganz bestimmt, sie möge sich mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte ich noch einmal.
    »Vielen herzlichen Dank«, sagte Malta Kano. Und nachdem sie sich abermals für den nächtlichen Anruf entschuldigt hatte, legte sie auf. Ich legte ebenfalls auf und sah dann noch einmal mein Spiegelbild in der Glasscheibe an. Dann kam mir der Gedanke: Vielleicht werde ich nie wieder mit Malta Kano sprechen. Dies konnte der letzte Kontakt gewesen sein, den ich je mit ihr haben würde. Sie konnte endgültig aus

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