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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Strickleiter war vom Brunnen verschwunden. Jemand mußte sie vom Baumstamm losgebunden und fortgeschafft haben. Beide Hälften der Brunnenabdeckung lagen, jede mit einem Stein beschwert, dicht aneinandergerückt an ihrem Platz. Ich öffnete eine Seite, spähte in den Brunnen hinunter und rief Kreta Kanos Namen. Es kam keine Antwort. Ich versuchte es noch ein paarmal und ließ nach jedem Ruf ein wenig Zeit verstreichen. Für den Fall, daß sie vielleicht schlief, warf ich ein paar Steinchen hinein, aber es schien sich niemand mehr auf dem Grund des Brunnens zu befinden. Kreta Kano war wahrscheinlich am frühen Morgen herausgeklettert, hatte die Leiter losgebunden und sie mitgenommen. Ich deckte den Brunnen wieder zu und ging. Als ich wieder auf der Gasse stand, lehnte ich mich an den Zaun des verlassenen Hauses und beobachtete eine Zeitlang May Kasaharas Haus. Ich dachte, vielleicht würde sie mich da sehen und herauskommen, wie sonst auch immer, aber sie ließ sich nicht blicken. Ringsum herrschte eine vollkommene, atemlose Stille - keine Menschen, keinerlei Geräusche, nicht einmal das Zirpen einer Zikade. Ich vertrieb mir die Zeit damit, daß ich mit der Fußspitze den Boden oberflächlich aufscharrte. Die Umgebung fühlte sich irgendwie verändert an, ungewohnt - als sei während der Zeit, die ich unten im Brunnen verbracht hatte, die alte Wirklichkeit dieses Ortes von einer neuen verdrängt und vollständig ersetzt worden. Irgendwo tief innen hatte ich dieses Gefühl schon, seit ich aus dem Brunnen gestiegen und nach Hause gegangen war.
    Ich kehrte nach Hause zurück, ging ins Bad und putzte mir die Zähne. Mein Gesicht war von mehrtägigen Stoppeln bedeckt; ich sah aus wie ein eben geretteter Schiffbrüchiger. Dies war das erste Mal in meinem Leben, daß ich meinen Bart so lang hatte wachsen lassen. Ich spielte mit der Idee, ihn richtig wachsen zu lassen, aber nach kurzer Überlegung beschloß ich doch, ihn abzurasieren. Aus irgendeinem Grund erschien es mir einfach besser, das Gesicht zu behalten, das ich gehabt hatte, als Kumiko verschwunden war.
    Ich weichte meinen Bart mit einem heißen Handtuch auf und bedeckte mein Gesicht mit einer dicken Schicht Rasierschaum. Dann fing ich an, mich - langsam und vorsichtig, um mich nicht zu schneiden - zu rasieren: erst das Kinn, dann die linke Wange, dann die rechte. Ich war mit der rechten Wange fast fertig, als ich im Spiegel etwas sah, was mich zusammenfahren ließ. Es war ein blauschwarzer Fleck. Zuerst meinte ich, ich hätte mich versehentlich irgendwo schmutzig gemacht. Ich wischte mir die letzten Reste von Rasierschaum aus dem Gesicht, seifte mich gründlich ein und rieb die betreffende Stelle mit dem Waschlappen, aber der Fleck ging nicht ab. Er schien tief in die Haut eingedrungen zu sein. Ich fuhr mit dem Finger darüber. An dieser einen Stelle fühlte sich die Haut ein kleines bißchen wärmer an als mein übriges Gesicht, aber ansonsten hatte ich dort keine auffällige Empfindung. Es war ein Mal. Ich hatte ein Mal auf der Wange, an genau der Stelle, an der ich im Brunnen dieses Hitzegefühl gehabt hatte. Ich näherte mein Gesicht dem Spiegel und untersuchte das Mal mit größter Sorgfalt. Es befand sich direkt unterhalb meines rechten Jochbeins und war etwa so groß wie die Handfläche eines Neugeborenen. Es war von einem Blau, das ins Schwarze spielte, wie die blauschwarze Tinte von Montblanc, die Kumiko immer benutzte.
    Eine mögliche Erklärung war, daß es sich um eine allergische Reaktion handelte. Vielleicht war ich im Brunnen mit etwas in Berührung gekommen, was einen Ausschlag hervorrief - wie Lack das manchmal tut. Aber was konnte es da unten, auf dem Grund des Brunnens, schon gegeben haben, das so wirkte? Ich hatte jeden Winkel mit der Taschenlampe abgesucht und nichts anderes gefunden als den Boden aus Erde und die Betonwand. Und erzeugten denn Allergien oder Ausschläge überhaupt jemals so deutlich umrissene Flecken? Eine leichte Panik befiel mich. Für ein paar Augenblicke verlor ich jede Orientierung, wie wenn einen am Strand eine große Welle überrollt und umherwirbelt. Der Waschlappen fiel mir aus der Hand. Ich warf den Papierkorb um und stieß mir den Fuß an irgend etwas an, und die ganze Zeit murmelte ich bedeutungslose Silben vor mich hin. Dann schaffte ich es, mich wieder zu fassen; ich lehnte mich gegen das Waschbecken und begann, ruhig darüber nachzudenken, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte.
    Das Beste, was ich vorläufig

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