Mister Aufziehvogel
wohl.
So verging eine gewisse Zeit - drei, vier Tage, würde ich sagen. Und dann beruhigte sich plötzlich alles, als wäre ein wütender Sturm durchgebraust und dann weitergezogen. Ich sah mich um und betrachtete mich selbst, und ich erkannte, daß ich ein neuer Mensch geworden war, von Grund auf verschieden von dem, der ich bis dahin gewesen war. Das war mein drittes Ich. Mein erstes Ich war dasjenige gewesen, das in der endlosen Hölle des Schmerzes gelebt hatte. Mein zweites Ich war dasjenige gewesen, das in einem Zustand schmerzfreier Gefühllosigkeit gelebt hatte. Das erste war ich in meinem ursprünglichen Zustand gewesen, außerstande, das schwere Joch des Schmerzes von meinem Nacken abschütteln. Und als ich doch versuchte, es abzuschütteln - das heißt, als ich den Versuch unternahm, mich zu töten, und scheiterte -, wurde ich zu meinem zweiten Ich: einem vorläufigen, einem Zwischen-Ich. Sicher, der physische Schmerz, der mich bis dahin gepeinigt hatte, war verflogen, aber mit ihm hatten sich auch alle übrigen Empfindungen in dunstige Ferne verzogen. Mein Lebenswille, meine physische Lebenskraft, meine Konzentrationsfähigkeit und die übrigen seelischen Kräfte - all das war zusammen mit dem Schmerz verschwunden. Nachdem ich diese seltsame Übergangszeit hinter mir gelassen hatte, schlüpfte ein vollkommen neues ›Ich‹ hervor. Ob dies dasjenige ›Ich‹ war, das ich von Anfang an hätte sein sollen, vermochte ich noch nicht zu sagen. Wohl aber ahnte ich - wie vage und unbestimmt auch immer -, daß ich mich wenigstens auf dem richtigen Weg befand.« Kreta Kano hob den Blick und sah mich an, als wolle sie meinen Eindruck von ihrer Geschichte erfahren. Ihre Hände ruhten noch immer auf dem Tisch.
»Sie wollen also sagen«, sagte ich, »daß dieser Mann Ihnen ein neues Ich gab, verstehe ich Sie richtig?«
Kreta Kano nickte. »Vielleicht tat er das wirklich«, sagte sie. Ihr Gesicht war so ausdruckslos wie der Grund eines ausgetrockneten Teiches. »Dadurch, daß ich von diesem Mann gestreichelt und festgehalten und dazu gebracht wurde, zum ersten Mal in meinem Leben eine so unfaßbar intensive geschlechtliche Lust zu empfinden, machte ich eine gewaltige physische Veränderung durch. Warum das geschah und warum es ausgerechnet dieser Mann auslösen mußte, ist mir unbegreiflich. Was immer sich dabei abgespielt haben mag, die Tatsache bleibt bestehen, daß ich mich am Ende dieses Prozesses in einem vollkommen neuen Gefäß wiederfand. Und als ich den Zustand tiefer Verwirrung, den ich gerade geschildert habe, erst einmal hinter mir gelassen hatte, bemühte ich mich, dieses neue Selbst als etwas Wahreres zu akzeptieren - und wenn auch nur aus dem Grunde, daß es mir ermöglicht hatte, mich aus dem erstickenden Gefängnis jener enormen Betäubung zu befreien.
Dennoch verfolgte mich noch lange Zeit danach ein übler Nachgeschmack, wie ein dunkler Schatten. Jedesmal, wenn ich mich an seine zehn Finger erinnerte, jedesmal, wenn ich mich an das Ding erinnerte, das er in mich hineingesteckt hatte, jedesmal, wenn ich mich an dieses schleimige, formlose Etwas erinnerte das aus mir herausgekommen war (oder sich so angefühlt hatte, als käme es aus mir heraus), verspürte ich ein schreckliches Unbehagen. Vage verspürte ich Zorn - und Verzweiflung - und wußte damit in keiner Weise umzugehen. Ich versuchte, jenen Tag aus meinem Gedächtnis zu tilgen, aber es war mir unmöglich, weil der Mann etwas in meinem Körper aufgebrochen hatte. Das Gefühl, aufgebrochen worden zu sein, wollte mich einfach nicht wieder verlassen, und unauflöslich damit verknüpft war die Erinnerung an diesen Mann und zugleich das deutliche Bewußtsein, beschmutzt worden zu sein. Es war ein widersprüchliches Gefühl. Verstehen Sie? Die Transformation, die ich durchgemacht hatte, war ohne Zweifel etwas in sich Richtiges und Wahres, aber sie war von etwas Schmutzigem herbeigeführt worden, etwas Unrichtigem und Falschem. Dieser Widerspruch - diese innere Spaltung - sollte mich noch lange Zeit quälen.« Wieder starrte Kreta Kano auf ihre Hände hinab.
»Nach diesem Ereignis hörte ich auf, meinen Körper zu verkaufen. Es war unsinnig geworden.« Kreta Kanos Gesicht blieb ausdruckslos.
»Sie konnten einfach so aufhören?« fragte ich.
Sie nickte. »Einfach so«, sagte sie. »Ich sagte niemandem etwas, hörte einfach auf, mich zu verkaufen, aber daraus entstanden keine Probleme. Es war fast enttäuschend einfach. Ich hatte angenommen, sie
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