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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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würden mich zumindest anrufen, und bereitete mich innerlich auf diesen Tag vor, aber er kam nie. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Sie kannten meine Adresse. Sie kannten meine Telefonnummer. Sie hätten mir drohen können. Aber es geschah nichts. Und so wurde ich, zumindest nach außen hin, wieder zu einem ganz normalen Mädchen. Mittlerweile hatte ich meinen Eltern alles zurückgezahlt, was ich ihnen schuldete, und noch eine erhebliche Summe beiseite gelegt. Mein Bruder hatte sich von dem Geld, das ich ihm gegeben hatte, ein neues Auto gekauft, mit dem er seine Zeit vergeuden konnte, aber er hätte sich niemals vorstellen können, was ich getan hatte, um das Geld für ihn aufzubringen.
    Ich brauchte Zeit, um mich an mein neues Ich zu gewöhnen. Was für ein Wesen war dieses Ich? Wie funktionierte es? Was empfand es - und wie? Ich mußte jeden einzelnen dieser Punkte durch eigene Anschauung in Erfahrung bringen, mir einprägen und abspeichern. Verstehen Sie, was ich meine? Praktisch alles, was ich in mir gehabt hatte, war ausgeflossen und verloren. Ich war vollkommen neu, aber auch vollkommen leer. Diese Leere mußte ich nach und nach füllen. Ich mußte dieses Etwas, das ich ›Ich‹ nannte, mit meinen eigenen Händen erschaffen - oder besser gesagt, die Dinge erschaffen, die mich ausmachten.
    Ich war zwar noch immer als Studentin eingeschrieben, aber ich hatte nicht die Absicht, an die Universität zurückzugehen. Ich verließ morgens das Haus, ging in einen Park und saß den ganzen Tag allein auf einer Bank, ohne irgend etwas zu tun. Oder ich schlenderte die Parkwege auf und ab. Wenn es regnete, ging ich in die Bibliothek, legte ein Buch vor mich auf den Tisch und tat so, als würde ich lesen. Manchmal verbrachte ich den ganzen Tag im Kino oder stieg in die Yamanote-Linie und fuhr im Kreis um die Stadt, immer wieder rundherum. Ich hatte das Gefühl, mutterseelenallein durch eine pechschwarze Leere zu treiben. Es gab niemanden, an den ich mich ratsuchend hätte wenden können. Wäre meine Schwester Malta dagewesen, hätte ich ihr mein Herz ausschütten können, aber damals lebte sie ja auf der fernen Insel Malta in Klausur und trieb ihre asketischen Übungen. Ich wußte ihre Adresse nicht. Ich hatte keine Möglichkeit, mich mit ihr in Verbindung zu setzen. Und so mußte ich diese Probleme völlig aus eigener Kraft lösen. Kein Buch erklärte die Erfahrung, die ich gemacht hatte. Doch so allein ich auch war, unglücklich war ich nicht. Ich konnte mich an mir selbst festhalten. Wenigstens hatte ich jetzt ein Ich, an das ich mich klammern konnte. Mein neues Ich war wieder imstande, Schmerz zu empfinden, wenn auch nicht mehr mit der früheren Intensität. Ich konnte ihn spüren, aber zugleich hatte ich gelernt, wie ich ihm entfliehen konnte. Das heißt, ich war imstande, mich von dem physischen Wesen, das den Schmerz erlebte, loszulösen. Verstehen Sie? Ich war fähig, mich in ein physisches und ein nichtphysisches Wesen aufzuspalten. Vielleicht klingt es schwierig, wenn ich es so beschreibe, aber sobald man die Methode beherrscht, ist es ganz einfach. Wenn der Schmerz zu mir kommt, verlasse ich meine Physis. Das ist genau so, wie wenn man still und leise ins Nebenzimmer verschwindet, sobald man jemanden kommen sieht, dem man nicht begegnen möchte. Es gelingt mir auf eine ganz natürliche Weise. Ich erkenne, daß Schmerz in meinen Körper gelangt ist; ich spüre das Vorhandensein des Schmerzes; aber ich bin nicht da. Ich bin im Nebenzimmer. Und so kann mich der Schmerz nicht mehr unterjochen.«
    »Und Sie können sich jederzeit, ganz nach Belieben, so von sich selbst lösen?«
    »Nein«, sagte Kreta Kano nach kurzem Nachdenken. »Anfangs konnte ich das überhaupt nur, wenn mein Körper physischen Schmerz empfand. Schmerz war der Auslöser für diese Abspaltung meines Bewußtseins. Später dann, mit Malta Kanos Hilfe, lernte ich, es bis zu einem gewissen Grad willentlich zu tun. Aber das war viel später.
    Bald darauf erhielt ich einen Brief von Malta Kano. Sie schrieb, sie habe eine dreijährige Ausbildung, der sie sich auf Malta unterzogen hatte, endlich abgeschlossen, und werde noch in derselben Woche nach Japan zurückkehren. Sie habe vor, sich nun endgültig in Japan niederzulassen. Die Aussicht, sie wiederzusehen, machte mich überglücklich. Wir waren fast acht Jahre lang voneinander getrennt gewesen. Und wie gesagt, Malta war der einzige Mensch auf der Welt, dem ich ohne Scheu alles erzählen

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