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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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konnte, was ich im Herzen mit mir herumtrug,. Gleich am Tag ihrer Rückkehr nach Japan erzählte ich Malta alles, was mir widerfahren war. Sie hörte sich meine lange, seltsame Geschichte bis zum Ende an, ohne einen Kommentar, ohne eine einzige Frage. Und als ich fertig war, stieß sie einen tiefen Seufzer aus und sagte: ›Ich weiß, ich hätte bei dir sein sollen, hätte dich während dieser ganzen Zeit behüten sollen. Aus irgendeinem Grund habe ich nicht begriffen, daß du so ernste Probleme hattest. Vielleicht lag das daran, daß du mir einfach zu nah bist. Aber wie dem auch sei, es gab Dinge, die ich tun mußte. Es gab Orte, die ich aufsuchen mußte, und zwar allein. Ich hatte keine Wahl.‹
    Ich sagte ihr, sie dürfe sich keine Vorwürfe machen. Das seien schließlich meine Probleme, und es gehe mir auch langsam, aber sicher besser. Sie dachte eine Weile schweigend darüber nach und sagte dann: ›Alles, was du durchgemacht hast, seitdem ich Japan verließ, ist schmerzlich und bitter für dich gewesen, aber wie du selbst sagst, hast du dich dabei Schritt für Schritt auf den richtigen Zustand zubewegt. Das Schlimmste ist vorbei, und es wird nie wieder zurückkehren. Solche Dinge werden dir nie mehr widerfahren. Es wird nicht leicht sein, aber wenn erst einmal eine gewisse Zeit vergangen ist, wird es dir gelingen, vieles zu vergessen. Ohne ein wahres Selbst kann der Mensch aber nicht weiterleben. Es ist wie der Boden, auf dem wir stehen. Ohne diesen Boden können wir nichts aufbauen. Eines darfst du allerdings niemals vergessen, und zwar, daß dein Körper von diesem Mann beschmutzt worden ist. Das hätte niemals geschehen dürfen. Du hättest dir für immer abhanden kommen können; du hättest dazu verurteilt sein können, auf ewig durch Nichts zu irren. Glücklicherweise war deine damalige Seinsweise rein zufällig nicht dein wahres, ursprüngliches Ich, und so hatte deine Erfahrung die umgekehrte Wirkung. Statt dich gefangenzunehmen, befreite sie dich aus deinem Übergangsstadium. Daß es so ablief, war reines Glück. Die Beschmutzung besteht aber weiter in dir fort, und irgendwann wirst du dich ihrer entledigen müssen. Das ist etwas, was ich dir nicht abnehmen kann. Ich kann dir nicht einmal sagen, wie du das tun kannst. Du wirst die Methode selbst herausfinden und sie selbst anwenden müssen.‹
    Dann gab mir meine Schwester meinen neuen Namen: Kreta Kano. Nach meiner Neugeburt, sagte sie, bräuchte ich auch einen neuen Namen. Er gefiel mir auf Anhieb. Dann begann Malta Kano, mich als Medium zu benutzen. Unter ihrer Anleitung lernte ich, mein neues Ich besser und besser zu steuern und den Körper vom Geist zu sondern. Zum erstenmal in meinem Leben konnte ich Frieden finden. Natürlich kam ich an mein wahres Ich noch nicht ganz heran; dazu fehlte mir noch zuviel. Doch jetzt hatte ich in Malta Kano eine Gefährtin an meiner Seite, jemanden, auf den ich mich verlassen konnte, der mich verstand und mich akzeptierte. Sie wurde meine Führerin und Beschützerin.«
    »Aber dann sind Sie Noboru Wataya wiederbegegnet, nicht wahr?« Kreta Kano nickte. »Das ist richtig«, sagte sie. »Ich bin Noboru Wataya wiederbegegnet, Anfang März dieses Jahres. Über fünf Jahre waren vergangen, seit ich von ihm genommen worden war, meine Transformation durchlebt und dann begonnen hatte, mit Malta Kano zusammenzuarbeiten. Wir standen einander wieder gegenüber, als er zu uns ins Haus kam, um Malta zu sprechen. Wir wechselten kein Wort miteinander. Ich sah ihn nur ganz kurz im Eingangsflur, aber dieser eine Moment genügte, um mich erstarren zu lassen, als hätte mich ein Blitz getroffen. Er war dieser Mann - der letzte, der mich gekauft hatte. Ich rief Malta beiseite und sagte ihr, das sei der Mann, der mich beschmutzt habe. ›Gut‹, sagte sie. ›Mach dir keine Sorgen, überlaß alles mir. Laß dich nicht blicken. Sorg dafür, daß er dich nicht sieht.‹ Ich tat wie geheißen. Und darum weiß ich auch nicht, worüber er und Malta Kano dann gesprochen haben.«
    »Was könnte Noboru Wataya nur von Malta Kano gewollt haben?« Kreta Kano schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Herr Okada, ich habe keine Ahnung.«
    »Die Leute kommen doch in der Regel zu Ihnen ins Haus, weil sie etwas wollen, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Um was für Dinge geht es denn dabei?«
    »Um alle möglichen Dinge.«
    »Aber welcher Art? Können Sie mir ein Beispiel geben?«
    Kreta Kano biß sich kurz auf die Lippe. »Verlorene Dinge. Ihr Schicksal. Die

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