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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Schlägers die gegenüberliegende Wand ab - noch dieselbe harte, kalte Betonwand. Ich bin in einem Zylinder aus Zement eingeschlossen. Diesmal hätte ich’s beinah geschafft, sage ich mir. Langsam komme ich der Sache näher. Da bin ich mir sicher. Irgendwann durchbreche ich die Barriere und gelange »hinein«. Ich schlüpfe in das Zimmer, und wenn der Schlag kommt, stehe ich gewappnet da. Aber wie lange wird es noch dauern, bis es soweit ist? Und wieviel Zeit bleibt mir noch?
    Zugleich fürchte ich mich vor dem Augenblick, in dem es wirklich geschieht. Denn dann werde ich mich dem stellen müssen, was da ist, was es auch sein mag. Noch eine Zeitlang kauere ich weiter in der Dunkelheit. Erst muß mein Herz sich beruhigen. Erst muß ich behutsam die Hände vom Griff des Schlägers schälen. Bevor ich mich erheben, auf der Erde des Brunnenbodens stehen, dann die stählerne Leiter hinauf an die Oberfläche steigen kann, brauche ich noch etwas Zeit, und mehr Kraft.

9
    D ER ANGRIFF AUF DEN TIERPARK
    (ODER: EIN STÜMPERHAFTES MASSAKER)
     
    Muskat Akasaka erzählte die Geschichte der Tiger, Leoparden, Wölfe und Bären, die eines erbärmlich heißen Nachmittags im August 1945 von Soldaten erschossen wurden. Sie erzählte mit der Strenge und Klarheit eines Dokumentarfilms, der auf eine grellweiße Leinwand projiziert wird. Sie ließ nichts unbestimmt. Und doch hatte sie es nicht mit eigenen Augen gesehen. Während es geschah, stand sie auf Deck eines Transportschiffs, das aus der Mandschurei geflohene japanische Siedler zurück in die Heimat brachte. Was sie tatsächlich gesehen hatte, war das Auftauchen eines amerikanischen Unterseebootes.
    Wie alle übrigen Passagiere, waren sie und die anderen Kinder aus dem unerträglichen Schwitzbad des Stauraums geflohen und hatten sich an die Reling gestellt, um die sanfte Brise zu genießen, die über die ruhige, glatte See dahinstrich, als das U-Boot mit einemmal, als sei es Teil eines Traums, aufgestiegen war. Zuerst durchbrachen Funk- und Radarantenne und Sehrohr die Wasseroberfläche. Dann tauchte der Kommandoturm auf und pflügte eine rauschende Kielspur durchs Wasser. Und schließlich hatte die triefende Stahlmasse ihre anmutige Nacktheit vollständig der Sommersonne dargeboten. Obwohl das Objekt nach Form und Beschaffenheit nichts als ein U-Boot sein konnte, sah es wie ein symbolisches Zeichen aus - oder eine unbegreifliche Metapher.
    Das Unterseeboot fuhr eine Zeitlang neben dem Schiff her, als belaure es seine Beute. Bald öffnete sich eine Luke, und ein Matrose, dann noch einer und noch einer stiegen langsam, fast träge hinaus aufs Deck. Vom Deck des Kommandoturms aus musterten die Offiziere das Transportschiff minuziös durch riesige Ferngläser, deren Objektive hie und da im Sonnenlicht aufblitzten. Das Schiff war voller Zivilisten auf der Heimreise nach Japan; es hatte den Hafen von Sasebo als Ziel. Frauen und Kinder bildeten die Mehrzahl der Passagiere: Angehörige japanischer Beamter der Marionettenregierung von Mandschukuo und leitender Angestellter der japanisch kontrollierten Südmandschurischen Eisenbahn, die vor dem Chaos, das nach der unmittelbar bevorstehenden Niederlage Japans ausbrechen würde, zurück in die Heimat flohen. Dem sicheren Grauen zogen sie das Risiko, auf offener See von einem amerikanischen Unterseeboot angegriffen zu werden, vor - hatten es zumindest bis zu diesem Augenblick vorgezogen.
     
    Die U-Boot-Offiziere vergewisserten sich offenbar, daß der Transporter unbewaffnet war und nicht von Marinetruppen begleitet wurde. Die Amerikaner hatten nichts zu befürchten. Sie besaßen inzwischen auch die uneingeschränkte Luftherrschaft. Okinawa war gefallen, und auf japanischem Boden verblieben nur noch wenige Kampfflugzeuge, wenn überhaupt welche. Kein Grund zur Panik: die Zeit arbeitete für die Amerikaner. Ein Bootsmann bellte einen Befehl, und drei Matrosen betätigten die Kurbeln der Drehlafette, bis die Bordkanone auf das Transportschiff zielte. Zwei weitere Besatzungsmitglieder öffneten die Hinterdecksluke und wuchteten schwere Artilleriegeschosse für die Kanone herauf. Wieder andere Besatzungsmitglieder luden mit geübten Bewegungen ein Maschinengewehr, das sie auf einem erhöhten Teil des Decks hinter dem Kommandoturm aufgebaut hatten. Auf Angriff vorbereitet, trugen sämtliche Besatzungsmitglieder Stahlhelme, obwohl einige von ihnen vom Gürtel aufwärts nackt waren und fast die Hälfte kurze Hosen trugen. Wenn Muskat ganz genau

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